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Interpretation von Conrad Ferdinand Meyer:
Nachtgeräusche

 
Einleitung

Seit Hugo von Hofmannsthals kritischem Meyer-Aufsatz aus dem Jahre 1925[1] ist es in der Literaturwissenschaft üblich geworden, das Gedichtwerk Conrad Ferdinand Meyers in zwei inhaltlich und qualitativ deutlich unterschiedene Teile aufzugliedern. Auf der einen Seite stehen die zahlreichen historischen Balladen, die in Meyers Gedichtsammlung vor allem in den Zyklen Götter, Frech und Fromm, Genie und Männer zu finden sind, auf der anderen Seite die eher lyrischen Gedichte aus den Zyklen Vorsaal, Stunde, In den Bergen, Reise und Liebe. Über die Balladen sprach Hofmannsthal schon 1925 ein äußerst strenges Urteil aus: Ihre Sprache sei „kaum erträglich“,[2] es herrsche eine „Unklarheit über das poetische Ziel sowohl als über die Mittel, es zu erreichen“;[3] „das Eigentliche, das Lyrische“ sei einem „unsicheren Bestreben, Geschichte aufleben zu machen, nein, historische Anekdotenbilder in Strophen umzusetzen, aufgeopfert“;[4] es gehe um „Ketzer, Gaukler, Mönche und Landsknechte, sterbende Borgias, Cromwells, Colignys; Medusen, Karyatiden, Bacchantinnen, Druiden, Purpurmäntel, Bahrtücher; Hochgerichte, Tempel, Klostergänge; [...] Wämser und Harnische, aus denen Stimmen reden“[5] – für Hofmannsthal „eine beschwerende, fast peinliche Begegnung: das halbgestorbene Jahrhundert haucht uns an; die Welt des gebildeten, alles an sich raffenden Bürgers entfaltet ihre Schrecknisse; ein etwas, dem wir nicht völlig entflohen sind, nicht unversehrt entfliehen werden, umgibt uns mit gespenstischer Halblebendigkeit; wir sind eingeklemmt zwischen Tod und Leben, wie in einen üblen Traum, und möchten aufwachen.“[6] Etwas gemäßigter und sachlicher, jedoch nicht weniger kritisch äußern sich neuere Interpreten über die Balladen: Staiger spricht von „Theatergebärden“ und „falsche[m] Pathos“,[7] David von „falsche[m] Prunk“ und „billige[r] Pathetik“, von „Geste“ und „Phrase“,[8] Kohlhaas von „eher wahllos zugemessene[m] Pathos“;[9] mit diesem Teil seines Werkes habe Meyer „kaum Eigenes hinterlassen“;[10] es bleibe der historischen Dichtung des 19. Jahrhunderts verhaftet.[11]

Von ganz anderer Qualität seien dagegen Meyers lyrische Gedichte; in ihnen spreche sich „sein wahres Dasein“[12] aus. Besonders gelte dies für diejenigen Gedichte, die vom Tod sprechen; hier leiste Meyer „sein Bestes und Eigenstes“,[13] hier stoße er „in dichterisches Neuland vor.“[14] Schon Hofmannsthal hatte dies erkannt, als er 1925 schrieb, neben den „fast zweihundert Gedichte[n], die keine Pietät am Leben erhalten“[15] könne, fänden sich in Meyers Gedichtsammlung durchaus einzelne Werke von bleibendem Wert, Werke, deren Inspirationsquelle „ein edler Gram“,[16] eine „bewußte, fast mit Glück empfundene Todesnähe“[17] sei und die dadurch „eine gedämpfte, melodische Trauer, eine finstere Kühnheit“[18] durchwalte. So enthalte „dieser Band neben den zweihundert Gedichten, die zu lesen bemühend“ seien, „ihrer vielleicht zwölf oder fünfzehn, die dem höchsten Rang sich nähern, und sieben oder acht, die ihn erreichen.“[19] Damit trete „der Lyriker C.F. Meyer in die kleine Schar der wenigen großen Dichter der Deutschen.“[20] Als Belege für diesen außerordentlichen Rang des Lyrikers Meyer nennt Hofmannsthal die Gedichte Unter den Sternen, Chor der Toten,[21] Der römische Brunnen, Das Ende des Festes, Nachtgeräusche, Im Spätboot, Schwarzschattende Kastanie, Schwüle, Ein Lied Chastelards, Wetterleuchten und Weihgeschenk. Die meisten dieser Gedichte werden auch heute noch allgemein zu den gelungensten lyrischen Schöpfungen des Dichters gerechnet.

In der vorliegenden Arbeit soll als Beispiel für die lyrische Kunst Conrad Ferdinand Meyers das Gedicht Nachtgeräusche ausführlich analysiert werden. Dieses Gedicht hat in der Geschichte der Meyer-Rezeption seit jeher große Wertschätzung erfahren; Adolf Stern zählte es schon 1904 „zu den vollendetsten und schönsten“[22] Gedichten Meyers, Hofmannsthal bezeichnete es – ebenso wie die thematisch verwandten Gedichte Im Spätboot und Schwarzschattende Kastanie – als „wunderbare[s] melodische[s] Denkmal [...] dieser einsamen Seele“.[23] In neuerer Zeit haben unter anderen Heinrich Henel[24] und Peter K. Jansen[25] den hohen künstlerischen Rang des Werkes bestätigt.


Interpretation

Nachtgeräusche

Melde mir die Nachtgeräusche, Muse,
Die ans Ohr des Schlummerlosen fluten!
Erst das traute Wachtgebell der Hunde,
Dann der abgezählte Schlag der Stunde,
Dann ein Fischer-Zwiegespräch am Ufer,
Dann? Nichts weiter als der ungewisse
Geisterlaut der ungebrochnen Stille,
Wie das Atmen eines jungen Busens,
Wie das Murmeln eines tiefen Brunnens,
Wie das Schlagen eines dumpfen Ruders,
Dann der ungehörte Tritt des Schlummers.[26]

Worum geht es in diesem Gedicht? Meyer schildert in elf Versen eine scheinbar sehr alltägliche, ja beinahe banale Situation: den Übergang vom Wachen zum Schlafen. Der Dichter liegt schlummerlos auf seinem Lager, offensichtlich in einem Haus am Seeufer, und hört die Geräusche der Nacht an sein Ohr dringen. Allmählich tritt Stille ein, die der Dichter als „ungewissen Geisterlaut“ wahrnimmt und die durch kein Geräusch von außen mehr gestört wird. Zuletzt kommt schließlich der Schlaf, dessen „Tritt“ der Dichter nicht mehr hört. Diese drei Phasen lassen sich auch in der Struktur des Gedichtes deutlich voneinander abgrenzen. In den Versen 1–5 werden die verschiedenen realen Geräusche wiedergegeben, die der Dichter – noch schlummerlos – wahrnimmt; die Verse 6–10 schildern die Phase der „ungebrochnen Stille“, für deren „Geisterlaut“ der Dichter drei Vergleiche findet; im letzten Vers wird dann das Eintreten des Schlummers beschrieben. Im Folgenden wollen wir die drei Abschnitte des Gedichtes etwas genauer untersuchen.

Das Gedicht beginnt mit einer rhetorischen Anrufung der Muse, die aufgefordert wird, dem Dichter die Nachtgeräusche zu „melden“, die an sein Ohr dringen. Diese Vorstellung ist merkwürdig: Obwohl die Geräusche das Ohr des Dichters erreichen, ist er offensichtlich nicht in der Lage, sie selbst zu identifizieren; er benötigt dazu die Muse als Vermittlerin. Damit erfolgt eine gewisse Distanzierung: Der Dichter erfährt die Wirklichkeit nicht unmittelbar, sondern nimmt sie erst aus zweiter Hand, aus der Hand der Muse und damit aus der Hand der Kunst entgegen.[27] Auch in anderen Gedichten Meyers finden wir diese für ihn charakteristische Vermittlung durch die Kunst, so z.B. „in dem Gedicht Auf Goldgrund, wo der Gang durch ein Museum, die Betrachtung alter Bilder, ihm die Augen öffnet für den Goldgrund einer Abendlandschaft, oder in den Stapfen, wo nicht die Geliebte, nicht das Leben selber, sondern ein Gebilde, das die Phantasie gestaltet, im Gedicht gestaltet wird.“[28] Meyer ist insofern „kein ursprünglicher Dichter“;[29] seine Kunst ist, wie Staiger es ausdrückt, „eine Kunst im zweiten Grad, ein Malen wie aus einem überhauchten Spiegel, der die Dinge schon entrückt dem Auge darstellt“.[30] Dass auch im Falle der Nachtgeräusche der Anstoß zum lyrischen Schaffensprozess nicht von einem persönlichen Erlebnis, sondern von einem Kunstwerk ausging, werden wir weiter unten bei der Betrachtung der Entstehungsgeschichte noch sehen.

Neben dem Hinweis auf die Vermittlerrolle der Kunst weckt die Anrufung der Muse aber noch eine andere Assoziation: Man fühlt sich an das antike Epos erinnert,[31] vor allem an Homers Odyssee, die bekanntlich mit folgenden Worten beginnt:

Nenne mir, Muse, den Mann, den vielgewandten, der vielfach
Irrte umher, nachdem er die heilige Troia zerstörte.[32]

Die Ähnlichkeit zwischen diesen Versen und dem Beginn des Gedichtes Nachtgeräusche ist wohl nicht zufällig. Zwar wird man in der Interpretation sicherlich nicht so weit gehen können wie Fehr, der vermutet, Meyer wolle mit der Reminiszenz an die Odyssee „andeuten, dass das Erlebnis schlafloser Nachtstunden eine Art innere Odyssee darstelle“[33] – ein derartiger inhaltlicher Zusammenhang lässt sich aus dem Gedicht kaum ableiten; auf anderer Ebene besteht jedoch sehr wohl eine Beziehung zwischen den beiden Texten: Wie das klassische Epos verzichtet auch Meyer auf alles Persönliche, Subjektive,[34] Stimmungshafte; es geht „nicht darum, die Stimmung des Entschlummernden zu fassen. Sondern die Geräusche, wie sie nacheinander hörbar sind, sollen aufgezeichnet werden“.[35] Diese rein deskriptive Darstellungsweise kommt in ihrer Objektivität und Distanziertheit dem Stil des antiken Epos nahe.[36] Dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Musenanruf in der Odyssee und dem in Nachtgeräusche: Das pathetische Element, das für die Gattung des Epos charakteristisch ist, fehlt bei Meyer völlig; der Anruf der Muse „steht hier vollkommen leise, nur die Bitte um die Gabe des Wortes ausdrückend. Es ist“, so Beatrice Sandberg-Braun in Anspielung auf das Gedicht Liederseelen, „gleichsam das Flehen um die ‚Gunst der Stunde‘, die dem Dichter das Lied gewähren soll.“[37]

Im 2. Vers wird dann von den Nachtgeräuschen gesagt, dass sie ans Ohr des Dichters „fluten“. Im Gegensatz zu dem in diesem Zusammenhang vielleicht eher erwarteten Wort „dringen“ drückt „fluten“ eine breitere Bewegung, ein Strömen großer Mengen aus; es bezieht sich gewöhnlich auf Wassermassen, kann jedoch durchaus auch im akustischen Sinne verwendet werden, wie Meyers Gedicht Neujahrsglocken zeigt:

In den Lüften schwellendes Gedröhne,
Leicht wie Halme beugt der Wind die Töne:

Leis verhallen, die zum ersten riefen,
Neu Geläute hebt sich aus den Tiefen.

Große Heere, nicht ein einzler Rufer!
Wohllaut flutet ohne Strand und Ufer.[38]

Während es sich in diesem Gedicht tatsächlich um große Klangmassen handelt, die der Dichter wahrnimmt, werden in Nachtgeräusche nur relativ leise (und zudem allmählich verebbende) Geräusche beschrieben; insofern erscheint die Verwendung des Wortes „fluten“ hier weniger einsichtig. Vielleicht wollte Meyer mit diesem Wort schon die Wassermotivik der Verse 9 und 10 anklingen lassen,[39] vielleicht hat er den Ausdruck auch wegen seiner klanglichen Wirkung gewählt: „fluten“ klingt wesentlich dunkler und schwerer als etwa „dringen“; außerdem fügt es sich gut in die u-Assonanz der Verse 1–5 und 8–11 (auf die noch zurückzukommen sein wird) ein.

Auf die Anrufung der Muse in den Versen 1 und 2 folgt dann in den Versen 3–5 eine Aufzählung der Geräusche, die die Muse dem schlummerlosen Dichter meldet. Drei Geräusche werden genannt, jedem wird genau eine Zeile gewidmet:

Erst das traute Wachtgebell der Hunde,
Dann der abgezählte Schlag der Stunde,
Dann ein Fischer-Zwiegespräch am Ufer.

Es sind Geräusche der realen Welt, die hier von draußen an das Ohr des Dichters dringen, Geräusche, die ihm vertraut sind. Dem Gebell der Hunde „haftet nichts Gehässiges, Ärgerliches oder auch nur Aufregendes an – wir wissen, dass Meyer ein Tier- und vor allem ein Hundefreund war“;[40] auch das Vergehen der Zeit, das sich im „abgezählten Schlag der Stunde“ manifestiert, nimmt der Dichter „in Ruhe zur Kenntnis“;[41] er „weiß über den Zeitablauf Bescheid“[42] und registriert genau die Anzahl der Glockenschläge. Zuletzt hört er das Gespräch zweier Fischer am Ufer – „auch dies ohne Neugier“.[43] Es ist für ihn ein bloßes Geräusch; was die Fischer sagen, dürfte ihm nicht mehr im Einzelnen verständlich sein. Betrachten wir die Abfolge der Laute insgesamt, so lässt sich eine Abstufung vom Vertrauten zum weniger Vertrauten feststellen:[44] Das Wachtgebell der Hunde klingt „traut“, der Stundenschlag ist noch „abgezählt“ zu vernehmen, das Zwiegespräch der Fischer dagegen wird nicht mehr verstanden. Ob die Geräusche auch immer leiser werden, wie Staiger meint,[45] geht aus dem Text nicht eindeutig hervor; wir wissen nicht, in welcher Entfernung sich Hunde, Kirchturm und Fischer vom Haus des Dichters befinden. In den ersten beiden Fassungen des Gedichtes stand beispielsweise der Kirchturm am anderen Ufer des Sees;[46] damit wäre das Gespräch der Fischer am diesseitigen Ufer wahrscheinlich deutlicher zu hören als der Glockenschlag. Auch die Lautstärke des Hundegebells hängt davon ab, ob die Hunde des Dichters gemeint sind oder die eines Nachbarn. In jedem Fall wird man aber festhalten können, dass es sich durchweg um relativ leise, gedämpfte Geräusche handelt; sie erschrecken den Dichter nicht, sondern üben eine beruhigende Wirkung auf ihn aus.

Im 6. Vers tritt dann ein Wendepunkt ein. Wie die beiden vorhergehenden beginnt auch dieser mit dem Wort „Dann“, was zunächst den Eindruck erweckt, die Aufzählung der Nachtgeräusche solle fortgesetzt werden. Stattdessen aber folgt dem dritten „Dann“ ein Fragezeichen,[47] das „unvermutet eine nachhaltige Pause“[48] bewirkt. Die Aufzählung der Nachtgeräusche ist beendet; was jetzt folgt, ist „nichts weiter“ als ungebrochene Stille. Aber selbst in dieser vollkommenen Stille ist paradoxerweise noch etwas hörbar, nämlich ein „ungewisser Geisterlaut“; oder genauer ausgedrückt: die Stille selbst wird als „ungewisser Geisterlaut“ hörbar. Eine ähnliche Vorstellung finden wir in dem Gedicht Himmelsnähe aus Meyers Sammlung Romanzen und Bilder (1869):

Auf schmalem Grat bin ich gelagert hier
In der Gebirge weißgezacktem Kreis,
Ein blendend Silberhorn blickt über mir
Hervor aus einem grünen Meer von Eis.

[...]

Bald nahe tost, bald fern der Wasserfall,
Jetzt stürzt er hier verweht, jetzt stäubt er dort!
Ein tiefes Schweigen und ein stäter Schall:
Der ungebrochnen Stille flüsternd Wort![49]

Auch wenn die Ausgangssituation dieses Gedichtes eine andere ist, so besteht doch im Motiv der hörbaren Stille eine bemerkenswerte Parallele zu Nachtgeräusche; dem „ungewissen Geisterlaut“ der Nachtgeräusche entspricht in Himmelsnähe das „flüsternd Wort“, die Formulierung „ungebrochne Stille“ kehrt sogar unverändert wieder. Die Bedeutung des Paradoxons ist in den beiden Gedichten aber wohl verschieden. In Himmelsnähe herrscht keine buchstäbliche Stille – der auf einem schmalen Felsengrat gelagerte Dichter hört das beständige Tosen eines Wasserfalls, das (wohl bedingt durch die wechselnde Windrichtung) bald aus unmittelbarer Nähe, bald aus größerer Ferne zu kommen scheint, jedoch immer als „stäter Schall“ vernehmbar bleibt. Dass der Dichter zugleich „ein tiefes Schweigen“ wahrzunehmen glaubt, lässt sich vielleicht aus der Tatsache erklären, „daß langanhaltende Geräusche und Töne vom Ohr mit der Zeit nicht mehr registriert werden und so mit der Stille eins werden, daß man sie erst dann wieder wahrnimmt, wenn sie abbrechen.“[50] Aus diesem Grund kann Meyer das Rauschen des Wasserfalls im nächsten Vers auch als flüsterndes Wort der ungebrochenen Stille bezeichnen. Welche Bedeutung das Erlebnis der hörbaren Stille für den Dichter hat, geht aus den beiden folgenden Strophen hervor:

O Luft der Höh’n, du wundersame Kraft!
Ich habe  s e i n e n  Athemzug gefühlt!
Zusammenschrickt die dumpfe Leidenschaft
Von reinen Hauchen schauerlich gekühlt.

Es flattert in der staubbefreiten Brust,
Die kühnen Schwingen öffnend ungestüm,
Des gottentstammten Geistes Gotteslust
Und schwebt mit Adlerskräften auf zu ihm.[51]

In der hörbaren Stille, der Identität von Schweigen und Schall offenbart sich Gott; der Dichter fühlt „seinen Athemzug“ und wird dadurch von allem Irdischen und Vergänglichen befreit; sein Geist erhebt sich und schwebt „mit Adlerskräften“ empor zu Gott, dem er entstammt. Die Stille lässt den Dichter also die Nähe Gottes und damit zugleich seinen eigenen Ursprung erfahren. Für Henel ist das Paradox der tönenden Stille deshalb “an image for the inner voice”:[52] “To listen to it is indeed to die to the world but also to enjoy true life, to be close to God. Only when the world has been left behind, when passion and pain have subsided can the soul recover its birthright.”[53]

Auf das Gedicht Nachtgeräusche kann diese Deutung freilich nur bedingt übertragen werden. Das religiöse Element, das Motiv des Aufschwungs zu Gott, fehlt hier völlig; auch ist die Stille in diesem Gedicht tatsächlich „ungebrochen“ – es ist kein tosender Wasserfall zu hören, dessen Schall mit der Stille eins wird; es herrscht wirkliche Ruhe. Dennoch hört der Dichter merkwürdigerweise noch etwas, nämlich einen „ungewissen Geisterlaut“. Das Wort „Geisterlaut“ deutet bereits an, dass das, was jetzt an das Ohr des Dichters dringt, unwirklich, irreal, wesenlos ist;[54] außerdem ist es „ungewiss“, also unbestimmt, nicht deutlich wahrnehmbar.[55] Im Gegensatz zu den zuvor genannten realen und klar bestimmbaren Geräuschen der Außenwelt kann der jetzt hörbare Laut der Stille nicht ohne weiteres in Worte gefasst werden; der Dichter bedient sich deshalb dreier bildhafter Vergleiche,[56] die das Unfassbare fassbar, das Unbegreifliche begreiflich machen sollen. Der Geisterlaut der Stille klingt

Wie das Atmen eines jungen Busens,
Wie das Murmeln eines tiefen Brunnens,
Wie das Schlagen eines dumpfen Ruders.

Staiger hat diese drei Geräusche als Metaphern für die Laute des eigenen Körpers (nämlich „Atem, Blutkreislauf und [...] Schlag des Herzens“[57]) gedeutet: In der Stille, in die der Dichter nach dem Verebben der realen Nachtgeräusche hineinlausche, blieben nur noch diese Laute hörbar. Der Dichter könne sie jedoch nicht selbst identifizieren, da er der Vermittlung durch die Muse bedürfe; er nehme die Geräusche daher zunächst nur als „ungewissen Geisterlaut“ wahr. Die Muse wiederum wisse nicht, dass der Körper die Geräusche sende, und deute sie deshalb als das Atmen eines Busens, das Murmeln eines Brunnens und das Schlagen eines Ruders. Eine solche Interpretation bringt allerdings mehrere Probleme mit sich. Während es zunächst durchaus plausibel erscheinen mag, das „Murmeln eines tiefen Brunnens“ und das „Schlagen eines dumpfen Ruders“ als Metaphern für das Rauschen des Blutes und den Herzschlag aufzufassen, kann eine Deutung des „Atmens eines jungen Busens“ als Metapher für das Atmen des Dichters kaum überzeugen; die Beziehung zwischen Bild und Gemeintem wäre in diesem Fall so eng, dass von einer Metapher nicht mehr gesprochen werden könnte. Hätte Meyer tatsächlich die Laute des Körpers metaphorisch umschreiben wollen, so wäre es ihm sicherlich möglich gewesen, für das Atmen einen ähnlich bildhaften Ausdruck zu finden wie für das Rauschen des Blutes und den Herzschlag. Im Übrigen ist zu beachten, dass im Gedicht nur von einem einzigen Geisterlaut die Rede ist, während Staiger davon ausgeht, dass der Dichter drei verschiedene Geräusche wahrnimmt. Diese Geräusche sollen nach Staigers Vorstellung jedoch offenbar nicht gleichzeitig zu hören sein, sondern „ineinanderschweben“, sodass der Geisterlaut der Stille „bald wie Atmen eines Busens, bald wie Murmeln eines Brunnens, bald wie Schlagen eines Ruders“[58] klingt. In der Realität würde dies freilich bedeuten, dass Atem, Rauschen des Blutes und Herzschlag abwechselnd zu hören wären oder zumindest abwechselnd dominant würden, was nur schwer vorstellbar ist (ganz abgesehen davon, dass es sehr fraglich ist, ob man das Rauschen des Blutes überhaupt hören kann). Zudem heißt es im Gedicht nicht, dass der Geisterlaut „bald wie“ dieses und „bald wie“ jenes Geräusch klingt, sondern dass er „wie“ diese Geräusche klingt. Es handelt sich also um einen einzigen unbestimmbaren Laut, der den Dichter gleichermaßen an das Atmen eines Busens, an das Murmeln eines Brunnens und an das Schlagen eines Ruders erinnert.

Kennzeichnend für alle diese Geräusche ist eine gewisse monotone Regelmäßigkeit[59] und Dauerhaftigkeit, die im Gegensatz zu der Unregelmäßigkeit und zeitlichen Begrenztheit der realen Nachtgeräusche steht; man könnte den „ungewissen Geisterlaut der ungebrochnen Stille“ daher als Metapher für das gleichbleibende, fast unhörbare Grundrauschen, das auch in der tiefsten Stille noch wahrnehmbar bleibt, deuten. Während die realen Geräusche der Nacht klar bestimmbar und benennbar waren, ist die Herkunft dieses Grundrauschens nicht eindeutig festzustellen, weder für den Dichter noch für die Muse; es erscheint daher unwirklich, ungewiss, geisterhaft. Um es beschreiben zu können, muss der Dichter zu Vergleichen greifen. Die drei Geräusche, die er in den Versen 8–10 nennt, zeigen neben dem bereits angesprochenen zeitlos-rhythmischen Element eine klar abgestufte Reihenfolge vom Nahen zum Entfernten: Das „Atmen eines jungen Busens“ ist nur aus nächster Nähe hörbar; vom Brunnen wird gesagt, dass er „murmelt“, was bereits eine gewisse Entfernung impliziert;[60] das „Schlagen eines Ruders“ schließlich kann nur vom See her zu hören sein, also aus noch größerer Entfernung, worauf auch das Attribut „dumpf“ hindeutet. Man muss dabei aber immer bedenken, dass der Dichter diese Geräusche nicht wirklich hört; sie kommen nicht von draußen, aus der realen Welt herein, sondern gehören der Innenwelt des Dichters, einer “imaginative reality”[61] an. Was er hört, ist nur „ein unbestimmbares ‚Als-Ob‘“[62], das seiner Phantasie wie das Atmen eines Busens, das Murmeln eines Brunnens und das Schlagen eines Ruders erscheint.

Im letzten Vers des Gedichtes verstummt schließlich auch dieser Geisterlaut. Nachdem sich bereits in den Versen 8–10 die (imaginären) Geräusche der Stille immer weiter entfernt hatten und damit auch immer leiser geworden waren,[63] wird nun die Lautgrenze endgültig überschritten: Das Eintreten des Schlummers ist nicht mehr hörbar; „die Möglichkeiten des menschlich Mitteilbaren sind damit erschöpft.“[64] Meyer hat hier, so Louis Wiesmann, „das Wunder geleistet, das Einschlafen in Sprache einzufangen und das kaum mehr bewußte Hinübergleiten aus dem bereits dämmernden Bewußtsein in das schweigende Reich des Schlummers zu gestalten.“[65]

Mit welchen formalen Mitteln Meyer dieses „Wunder“ vollbringt, hat besonders Emil Staiger herausgearbeitet. Staiger weist zunächst auf die „gelassene Ruhe“[66] des gleichmäßig fallenden Metrums hin; es handelt sich um den für Meyer charakteristischen fünfhebigen Trochäus, der u.a. auch in den thematisch verwandten Gedichten Schwüle, Eingelegte Ruder, Im Spätboot, Das Ende des Festes und Lethe begegnet. Obwohl das Gleichmaß dieses Metrums in unserem Gedicht nie unterbrochen wird (abgesehen von der Pause in Vers 6), findet im Bau der Verse doch ein gewisser Wandel statt. Im ersten Teil des Gedichtes (Verse 1–5) liegt das Hauptgewicht auf der Zeilenmitte („Nachtgeräusche – Schlummerlosen – Wachtgebell – abgezählte Schlag – Fischer-Zwiegespräch“), während im zweiten Teil (Verse 6–11) die Ränder, insbesondere die Versenden, stärker belastet sind. Die Verse des ersten Teils wirken dadurch fest und bestimmt, die des zweiten Teils leicht und schwebend.[67] Dem entspricht inhaltlich, dass die erste Hälfte des Gedichtes noch der realen Welt, der „Tagseite“[68], dem Wachsein angehört, während in der zweiten Hälfte die „Nachtseite“[69], die Innenwelt des Dichters dargestellt wird. Mit der Verschiebung des Schwerpunktes auf die Ränder geht, wie Staiger weiter ausführt, auch ein Wandel in der lautlichen Beschaffenheit einher: Im ersten Teil werden durch die starke Gewichtung der Versmitte die dort dominierenden harten Konsonanten besonders betont, während im zweiten Teil das Sonore und Weiche der die Versenden bestimmenden Vokale und Nasale vorherrschend ist.[70] Auch diese Veränderung spiegelt den Übergang von der Tag- zur Nachtseite, vom Wachen zum Schlafen wider. Betrachtet man die Lautgestalt des Gedichtes insgesamt, so fallen vor allem die zahlreichen u-Laute auf, die mit ihrem dunklen Klang insbesondere die Versausgänge beschweren; nur die Verse 6 und 7, in denen sich der Übergang zur Stille ereignet, fallen aus der beherrschenden u-Assonanz heraus (stattdessen weisen sie eine i-Assonanz auf). In der zweiten Hälfte des Gedichtes kommt das u auch im Versinnern wiederholt vor, wodurch wiederum das Dunkle der „Nachtseite“ unterstrichen wird.[71] Ein Reim findet sich interessanterweise nur einmal, nämlich in den Versen 3 und 4 („Hunde – Stunde“). Seine Funktion besteht nach Sandberg-Braun darin, den Leser „einzuwiegen und das matt-wohlige Gefühl des Einschlafens zu verbreiten.“[72] Eine ähnliche Wirkung geht auch von den durchweg weiblichen Kadenzen aus, die den Versen „etwas Gedämpftes, Leises“[73] verleihen.

Bis hierher haben wir das Gedicht ausschließlich auf einer wörtlichen Ebene interpretiert: als Beschreibung des allmählichen Übergangs vom Wachen zum Schlafen. Ohne Zweifel wohnt dem Gedicht jedoch auch eine symbolische Bedeutung inne. Der Schlaf gilt bereits seit der Antike als Bruder des Todes – eine Vorstellung, die auch bei Meyer häufig begegnet. In vielen seiner Gedichte wird das Wort „Schlummer“[74] geradezu als Synonym für den Tod verwendet, so z.B. in Das tote Kind:

Jetzt ist der Garten unversehns erwacht,
Die Kleine schlummert fest in ihrer Nacht.[75]

oder in Die Bank des Alten:

Er schlummert wohl in seines Grabes Frieden
Und seine Bank steht vor der Hütte leer.[76]

Besonders deutlich wird die enge Verbindung zwischen Schlummer und Tod in dem Gedicht Der schöne Tag: Zwei Knaben springen an einem warmen Julitag in den See; der eine „taucht gekühlt empor“, der andere jedoch „steigt nicht wieder auf“:

Der andre Knabe sinkt und sinkt
Gemach hinab, ein Schlummernder,
Geschmiegt das sanfte Lockenhaupt
An einer Nymphe weiße Brust.[77]

In Nachtgeräusche ist die symbolische Bedeutung des Schlummers weniger offensichtlich, da hier auch die wörtliche Lesart einen Sinn ergibt. Dass das Gedicht dennoch symbolisch zu verstehen ist, geht vor allem aus den Versen 9 und 10 hervor. Der Dichter hört, nachdem die Geräusche der Nacht verklungen sind, den ungewissen Geisterlaut der Stille, der ihm wie das Atmen eines Busens, wie das Murmeln eines Brunnens und wie das Schlagen eines Ruders erscheint. Besonders die letzten beiden Vergleiche lassen aufhorchen: Der Dichter fühlt sich durch den Laut der Stille an Geräusche erinnert, die mit Wasser in Verbindung stehen; dies ist insofern bemerkenswert, als das Wasser bei Meyer eine ganz besondere symbolische Bedeutung besitzt: Es ist bei ihm nicht mehr (wie noch in der Romantik) das Element des Lebens, sondern im Gegenteil das Element des Todes. Die Wurzeln für diese Assoziation sind in Meyers Biografie zu suchen: Im Jahre 1856 beging seine Mutter Selbstmord im Neuenburger See – für den Sohn eine traumatische Erfahrung, die ihn noch auf lange Jahre hin peinigte.[78] Es verwundert daher nicht, dass gerade der See mit seiner dunklen Tiefe in Meyers Lyrik immer wieder als Reich des Todes erscheint. Als Beispiel sei hier das Gedicht Schwüle zitiert:

Trüb verglomm der schwüle Sommertag,
Dumpf und traurig tönt mein Ruderschlag –
Sterne, Sterne – Abend ist es ja –
Sterne, warum seid ihr noch nicht da?

Bleich das Leben! Bleich der Felsenhang!
Schilf, was flüsterst du so frech und bang?
Fern der Himmel und die Tiefe nah –
Sterne, warum seid ihr noch nicht da? 

Eine liebe, liebe Stimme ruft
Mich beständig aus der Wassergruft –
Weg, Gespenst, das oft ich winken sah!
Sterne, Sterne, seid ihr nicht mehr da?

Endlich, endlich durch das Dunkel bricht –
Es war Zeit! – ein schwaches Flimmerlicht –
Denn ich wußte nicht wie mir geschah.
Sterne, Sterne, bleibt mir immer nah![79]

In keinem anderen Gedicht Conrad Ferdinand Meyers kommt die Verbindung zwischen Wasser, Mutter und Tod so deutlich zum Ausdruck wie hier. Die Stimme, die den Dichter aus der Tiefe ruft, ist zweifellos die der Mutter, die den Sohn zu sich in die „Wassergruft“ ziehen will. Um ihr widerstehen zu können, muss der Dichter seine ganze Kraft aufwenden; es gelingt ihm nur dadurch, dass er Ausschau nach den rettenden Sternen hält und damit eine „Gegenbewegung gegen das Herabziehende“[80] vollführt.

Nur selten hat Meyer das Wasser auf so beklemmende, eindringliche Weise als Bedrohung und Verlockung dargestellt,[81] und auch der Tod erscheint in seinem Werk nur selten als grausame, bedrohliche Macht, die den Dichter erschreckt und ängstigt; meist kommt er sanft, im Bild des Schlummers. Dennoch gehören Wasser und Tod zusammen: Auch in Nachtgeräusche wird das Eintreten des Todes durch zwei Wassermotive angekündigt – zunächst noch recht vage durch das „Murmeln eines tiefen Brunnens“, dann deutlicher durch das „Schlagen eines dumpfen Ruders“. Das zuletzt genannte Motiv ist uns in sehr ähnlicher Form auch in dem Gedicht Schwüle begegnet (Vers 2); während es jedoch dort der Dichter selbst war, der ruderte, hört er hier (in seiner Phantasie) den Ruderschlag eines anderen. Um wen es sich dabei handelt, wird im Gedicht nicht ausdrücklich gesagt; wer jedoch mit der Meyerschen Bildwelt etwas näher vertraut ist, fühlt sich unwillkürlich an Charon erinnert, den Fährmann der griechischen Sage, der mit seinem Boot die Toten über den Grenzfluss der Unterwelt bringt.[82] Er tritt in Meyers Gedichten häufig auf, sei es als „Fährmann“ (Huttens letzte Tage, LXXI), als „Ferge“ (Abendwolke), als „Steurer“ (Im Spätboot), als „stygisches Gesinde“ (Der Lieblingsbaum) oder auch explizit als „Charon“ (Michelangelo und seine Statuen; Papst Julius); Heinrich Henel ist sogar der Auffassung, dass überall dort, wo in Meyers Dichtung auch nur das Motiv des Bootes vorkommt, an Charons Boot zu denken sei, das den Tod symbolisiere.[83] Wenn es also Charon ist, den der Dichter in Nachtgeräusche kurz vor Eintreten des Schlummers herannahen zu hören meint, so stellt dies einen weiteren Hinweis auf die symbolische Bedeutung des Schlummers dar.[84]

Deutlich ausgesprochen wird diese symbolische Bedeutung freilich nirgends; auf der Oberfläche bleibt das Gedicht eine deskriptiv-realistische Schilderung des Einschlafens. Dass sich hinter dem Schlummer der Tod verbirgt, kann, wie wir gesehen haben, nur aus der Verwendung bestimmter Motive sowie durch den Vergleich mit anderen Gedichten erschlossen werden. Der Bezug drängt sich nicht auf; es bleibt dem Leser überlassen, ob er ihn sehen will oder nicht. Auch in seiner wörtlichen Bedeutung, als minutiöse Beschreibung des Übergangs vom Wachen zum Schlafen, ist das Gedicht bereits ein vollendetes Kunstwerk.


Entstehungsgeschichte

Zum Abschluss unserer Untersuchung wollen wir uns nun noch der Frage zuwenden, wodurch Meyer zu diesem Gedicht inspiriert wurde und auf welche Weise es entstand.

In der Frühzeit der Meyer-Forschung wurde Nachtgeräusche meist als reine Erlebnislyrik interpretiert. Max Nußberger zählt das Gedicht zu den „Stimmungsbildern des Seeufers, in den Tagen von Küsnacht und Meilen entstanden“;[85] dies würde auf eine Entstehungszeit zwischen 1868 und 1875 hindeuten.[86] Adolf Frey und August Langmesser glauben es sogar definitiv in die Küsnachter Zeit (also zwischen 1868 und 1872) datieren zu können.[87] Neuere Forschungen haben jedoch gezeigt, dass das Gedicht ein ganzes Jahrzehnt später, nämlich im Jahre 1881 oder 1882, entstanden ist, also zu einer Zeit, als Meyer nicht mehr Anwohner des Seeufers war – bereits 1877 war er nach Kilchberg umgezogen, „wo er zwar eine weite Aussicht auf See und Berge“ genoss, „aber vom Seeufer entfernt“[88] wohnte. Der Anstoß zu dem Gedicht ging also wohl nicht von einem direkten Erlebnis aus; vielmehr konnte nachgewiesen werden, dass Meyer die Anregung von einer literarischen Quelle empfing.[89]

Im Jahre 1880 wurde Meyer von Otto Friedrich Pestalozzi, dem Redaktor des Zürcher Taschenbuches, in dem bereits 1878 Meyers Novelle Der Schuss von der Kanzel erschienen war, um einen neuen Beitrag für diese Zeitschrift gebeten. Meyer, dem es nicht „lag [...], Auftragsarbeiten unter Terminverpflichtung herzustellen“,[90} wandte sich daraufhin an seinen Freund Edmund Dorer mit der Bitte, ihm ein Kapitel aus seinem Manuskript über Leben und Werk des Arztes und Schriftstellers Johann Georg Zimmermann (1728–1795) zu überlassen, um damit „die Zudringlichkeit des Redaktors des Zürcher Taschenbuches zu dämpfen.“[91] Dorer entsprach dieser Bitte und stellte Meyer das gesamte Manuskript, soweit es bis dahin fertiggestellt war, zur Verfügung; Meyer wählte daraus ein Kapitel über das langjährige Zerwürfnis Zimmermanns mit seinen kleinstädtischen Mitbürgern aus und veröffentlichte es in freier Bearbeitung unter dem Titel „Kleinstadt und Dorf um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Nach einem Manuscripte von Edmund Dorer mitgetheilt von C. Ferdinand Meyer“ im Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1881.[92] Er beschloss den Aufsatz mit einem leicht gekürzten und modernisierten Auszug aus Zimmermanns Werk Über die Einsamkeit (Vierter Teil, 1785), und zwar mit der Beschreibung des Dorfes Richterswil am oberen Zürichsee, wo Zimmermann im Haus seines Freundes, des Arztes Johannes Hotze (1734–1801), gewohnt und eine „Himmelsruhe“[93] genossen hatte. Durch dieses „Dorfbild“,[94] wie er es nennt, wurde Meyer zu dem Gedicht Nachtgeräusche inspiriert. Die für das Gedicht fruchtbar gewordene Stelle lautet bei Zimmermann wie folgt:

Die zwey Häuser des Arztes stehen mitten in diesem Dorfe, mit ihren Gärten umringet, so frey und friedlich, wie auf dem weiten Felde. Unter der Kammer meines Herzensfreundes läuft am Garten ein lieblich murmelnder Bach, und an dem Bache die Landstrasse, auf der seit Jahrhunderten beynahe täglich eine Menge Pilgrimme nach dem Kloster Einsiedlen gehen. [...] Vor den Zimmern und vor den Gärten liegt der Zürchersee, den nie gefährliche Stürme in Aufruhr bringen, in dessen Wasser sich die Ufer spiegeln, oder dessen Wellen, durch sanfte Winde bewegt, wie eine Heerde Schafe gaukeln.

Sieht man da in tiefer Nacht aus den Fenstern, oder athmet man einsam im Garten erfrischende Blumendüfte, indeß der Mond hinter den Bergen hervorwandelt, und eine feurige Heerstrasse über den See hinzeichnet, so höret man, mitten unter dieser Todtenstille, doch jenseits am Ufer, jeden Schlag der ländlichen Glocken; höret des Nachtwächters Stimme herüber hallen, und das Bellen treuer Haushunde; höret von ferne, den Kahn des langsam herbeyrudernden Schiffers, sieht wie Er in der feurigen Heerstrasse fährt, und mit den glänzenden Wellen spielt.[95]

Die unter dem Eindruck dieses Stimmungsbildes entstandene erste Fassung des Gedichtes Nachtgeräusche trägt den durchgestrichenen Titel Die Geräusche der Nacht und darunter den neuen Titel Nachts. Sie ist bis in die einzelnen Motive hinein noch sehr stark von Zimmermanns Vorlage abhängig:

Nachts.

Im Garten sitz’ bedeckt ich hier
Von Nacht u: der Kastanie Laub –
[Zu meinen Füßen schweigt der See.]
Die Hunde bellen. Zwölfter Schlag
Im Turm am andern Seegestad
Jetzt auf dem Waßer Zwiegespräch
Zwei Fischer sind’s, die Netze ziehn ....
[Blieb in dem dunkeln Nachbarhaus]
Das Giebelfenster offen stehn?
Ein Busen atmet in der Nacht.[96]

Die Ausgangssituation des Gedichtes ist dieselbe wie bei Zimmermann: Der Dichter sitzt nachts in seinem Garten am Ufer des Zürichsees und beschreibt seine Sinneseindrücke. Auffallend ist jedoch schon hier Meyers Konzentration auf akustische Wahrnehmungen; die visuellen Elemente der Vorlage lässt er entweder weg (so z.B. die „Heerstrasse“, die der Mond über den See zeichnet), oder er wandelt sie in akustische Eindrücke um (aus dem einzelnen Schiffer, der „in der feurigen Heerstrasse fährt“, wird das Zwiegespräch zweier Fischer auf dem See; auch der See selbst wird auf akustische Weise beschrieben [Vers 3]). Zudem bringt Meyer die verschiedenen Gehörseindrücke in eine sinnvolle Reihenfolge vom relativ Lauten (Bellen der Hunde) bis zum Fernen, nicht mehr deutlich Hörbaren (Gespräch der Fischer); als letztes und leisestes Geräusch fügt er das Atmen eines Busens im Nachbarhaus hinzu, ein Motiv, das bei Zimmermann noch nicht vorkam.[97]

Die zweite Fassung des Gedichtes ist wohl kurz nach der ersten entstanden, denn sie ist auf demselben Manuskriptblatt notiert. Meyer kehrt hier wieder zu der ursprünglichen Überschrift Die Geräusche der Nacht zurück:

Die Geräusche der Nacht.

In Nacht u: der Kastanie Laub
Sitz’ lauschend ich im Garten hier.
Die Hunde bellen. Zwölfter Schlag
Im Turm am andern Seegestad!
Jetzt auf dem Waßer Zwiegespräch:
Zwei Fischer sinds, die Netze ziehn –
Ein Giebelfenster offen steht’s,
Tief schlummernd athmet eine Brust.[98]

Gegenüber der ersten Fassung hat sich nur wenig verändert. Die Verse 3 und 8 wurden gestrichen, die beiden ersten Verse wurden vertauscht und leicht überarbeitet; durch die Einfügung des Wortes „lauschend“ in Vers 2 kommt nun die Konzentration auf akustische Wahrnehmungen schon zu Beginn deutlich zum Ausdruck. Ebenfalls umgearbeitet wurden die beiden Schlussverse. Die mittleren vier Verse blieben (abgesehen von der Interpunktion) unverändert.

Ein entscheidender Schritt gelingt dem Dichter im Übergang von der zweiten zur dritten Fassung; hier ereignet sich der große stilistische Sprung, der für Meyers lyrischen Schaffensprozess charakteristisch ist:[99]

Die Geräusche der Nacht

Melde mir die Dorfgeräusche, Muse,
Die ans Ohr des Schlummerlosen fluten:
Erst der trübe Jubel der Betrunknen,
Dann das traute Wachtgebell der Hunde,
Dann der abgezählte Schlag der Turmuhr,
Dann ein Fischerzwiegespräch am Ufer,
Dann? Nichts weiter als der Laut der Ruhe
Wie das Atmen eines reinen Busens,
Wie das Murmeln eines tiefen Brunnens,
Wie das Schlagen eines dumpfen Ruders,
Dann der sachte Schritt des nah’nden Schlummers.[100]

Diese Fassung, die ebenfalls noch 1881/82 entstanden sein muss, kommt der uns bekannten endgültigen Gestalt des Gedichtes bereits sehr nahe. Gegenüber den ersten beiden Fassungen ist die Ausgangssituation völlig verändert: Der Ort des Geschehens ist offensichtlich „ins Innere des Hauses verlegt, die Situation ist die des Schlummerlosen, der die letzten Geräusche von außen wahrnimmt“;[101] an die Stelle der direkten Wahrnehmung ist aber bereits die Vermittlung durch die Muse getreten. Zu den drei in den ersten beiden Fassungen genannten Geräuschen kommt jetzt „der trübe Jubel der Betrunknen“ hinzu; außerdem wird nun jedem Geräusch genau eine Zeile gewidmet, sodass eine syntaktisch völlig gleichmäßige Aufzählung entsteht. Ab Vers 7 geht Meyer dann ganz neue Wege. Nachdem die letzten Nachtgeräusche verhallt sind, hört und beschreibt er nun das eigentlich Unhörbare, den „Laut der Ruhe“. Er verwendet dazu drei sorgfältig abgestufte Vergleiche, von denen der erste das bereits in den früheren Fassungen enthaltene Motiv des atmenden Busens wiederaufgreift; die anderen beiden Motive kommen neu hinzu.[102] Im letzten Vers tritt schließlich der Schlaf ein; allerdings hat Meyer hierfür noch nicht die endgültige Formulierung gefunden.

Auch formal stellt die dritte Fassung gegenüber den vorherigen eine völlige Neufassung dar. Die vierhebigen Jamben wurden durch fünfhebige Trochäen ersetzt, das Gedicht wurde auf 11 Verse erweitert, die Kadenzen sind nun ausnahmslos weiblich, und es findet sich eine durchgehende u-Assonanz an den Versenden.

Die vierte Fassung des Gedichtes stimmt dann bereits weitgehend mit der endgültigen überein:

Nachtgeräusche.

Melde mir die Nachtgeräusche, Muse,
Die an’s Ohr des Schlummerlosen fluten!
Erst das traute Wachtgebell der Hunde,
Dann der abgezählte Schlag der Stunde,
Dann ein Fischer-Zwiegespräch am Ufer,
Dann? Nichts weiter als der ungewisse
Geisterlaut der ungebrochnen Stille,
Wie das Murmeln eines tiefen Brunnens,
Wie das Schlagen eines dumpfen Ruders,
Wie das Atmen eines kühlen Busens –
Dann des Schlummers leise, dunkle Tritte.[103]

Neben der neuen Überschrift und der Umstellung der Verse 8–10 fallen vor allem folgende Änderungen auf: Das Motiv des „trüben Jubels der Betrunknen“, das zu der Feierlichkeit des Musenanrufs nicht recht passen wollte, wurde wieder gestrichen; das Wort „Dorfgeräusche“ wurde – entsprechend der Überschrift – durch „Nachtgeräusche“ ersetzt; für das zentrale Motiv des „Lautes der Ruhe“ wurde eine neue Formulierung gefunden, und auch der Eintritt des Schlummers wurde neu – wenn auch noch immer nicht endgültig – in Worte gefasst.

Für die erste Druckfassung überarbeitete Meyer das Gedicht erneut; er stellte die ursprüngliche Reihenfolge der Verse 8–10 (und damit die sinnvolle Abstufung vom Nahen zum Entfernten) wieder her und änderte zwei Attribute: aus dem „kühlen Busen“ wurde ein „junger Busen“, und aus den „leisen, dunklen Tritten“ wurden „leise leise Tritte“.[104] In dieser Form erschien das Gedicht in der ersten Auflage der Sammlung Gedichte (1882). Mit dem letzten Vers war Meyer aber noch immer nicht zufrieden; für die zweite Auflage von 1883 nahm er daher nochmals eine Änderung vor, die dem letzten Vers und damit dem ganzen Gedicht seine endgültige Gestalt gab:

Dann der ungehörte Tritt des Schlummers.[105]

Betrachtet man die Entstehungsgeschichte der Nachtgeräusche insgesamt, so fällt zunächst der für Meyers Verhältnisse ungewöhnlich kurze Entstehungszeitraum auf: Von der Niederschrift der ersten Skizze bis zur letzten Korrektur der Endfassung vergingen maximal zwei Jahre. Das eigentlich Bemerkenswerte an der Entstehung dieses Gedichtes ist jedoch, dass Meyer, für den „der hier geschilderte Vorgang, das Verhallen der letzten Laute in der Stille der Nacht“, während seiner Küsnachter und Meilener Zeit „wohl ein fast tägliches Erlebnis“[106] war, erst Jahre später durch die Beschreibung Zimmermanns zu einer dichterischen Gestaltung dieser Situation inspiriert wird.[107] „Erst die Objektivierung des Erlebnisses durch eine fremde Beschreibung“[108] lässt ihn dessen poetische Möglichkeiten erkennen und befähigt ihn zu einer dichterischen Aussage. Diese Tatsache bestätigt die bereits zu Beginn zitierte Behauptung Staigers, Meyer nehme sein Dasein erst aus der Hand der Kunst entgegen; ebenso wie innerhalb des Gedichtes die Muse für die Übermittlung der Nachtgeräusche benötigt wird, so benötigt Meyer die fremde Beschreibung für die Vermittlung seiner eigenen Erfahrung. „Die Quelle kann deshalb für Meyer als Medium bezeichnet werden, das in ihm schon Vorhandenes anregt und u.U. etwas Gestalt annehmen läßt, was ohne den Anstoß formlos geblieben wäre.“[109]

Nach dieser Anregung durch eine literarische Quelle entwickelt Meyer das dichterische Motiv jedoch eigenständig fort: Aus der bloßen stimmungsvollen Schilderung der am nächtlichen Seeufer hörbaren Geräusche wird eine nuancierte Beschreibung des Übergangs vom Wachen zum Schlafen, dessen Bedeutung sich symbolisch weitet zum Übergang vom Leben zum Tod.


Literatur

Primärliteratur

Meyer, Conrad Ferdinand: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. 15 Bände. Bern (Benteli) 1958–1996.

Homer: Odyssee. Verdeutscht von Thassilo von Scheffer. Neu gestaltete Ausgabe. Sammlung Dieterich 14. Bremen (Schünemann) o.J.

Zimmermann, Johann Georg: Ueber die Einsamkeit. Vierter Theil. Karlsruhe (Schmieder) 1785.

Sekundärliteratur

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Chisholm, David / Sondrup, Steven P.: Konkordanz zu den Gedichten Conrad Ferdinand Meyers mit einem Versmaß- und Reimschemaregister. Indices zur deutschen Literatur 16. Tübingen (Niemeyer) 1982.

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Fährmann, Jürgen: Bildwelt und symbolische Gestaltung in der Dichtung Conrad Ferdinand Meyers. Studien zur Symbolik in den Gedichten und Novellen. Masch. Diss., Freiburg i.Br. 1964.

Fehr, Karl: Der Realismus in der schweizerischen Literatur. Bern/München (Francke) 1965.

Frey, Adolf: Conrad Ferdinand Meyer. Sein Leben und seine Werke. Stuttgart (Cotta) 1900.

Henel, Heinrich: The Poetry of Conrad Ferdinand Meyer. Madison (The University of Wisconsin Press) 1954.

Henel, Heinrich: „Conrad Ferdinand Meyer: Lyrik der Beschaulichkeit“. In: Monatshefte 60 (1968), S. 221–234.

Hofmannsthal, Hugo von: „C.F. Meyers Gedichte“. Zuerst in: Wissen und Leben. Neue Schweizer Rundschau 18 (1925), S. 980–987. Wieder abgedruckt in: Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 10 (Reden und Aufsätze III 1925–1929, Buch der Freunde, Aufzeichnungen). Hrsg. von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main (S. Fischer) 1980. S. 58–66 (alle Zitate nach dieser Ausgabe).

Jackson, David A.: Conrad Ferdinand Meyer mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. rowohlts monographien 238. Reinbek (Rowohlt) 1975.

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Pestalozzi, Karl: Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik. Berlin (de Gruyter) 1970.

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Wiesmann, Louis: Conrad Ferdinand Meyer. Der Dichter des Todes und der Maske. Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 19. Bern (Francke) 1958.


Anmerkungen

[1] „C.F. Meyers Gedichte“, zuerst in: Wissen und Leben. Neue Schweizer Rundschau 18 (1925), S. 980–987, wieder abgedruckt in: Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 10, hrsg. von Bernd Schoeller u.a., Frankfurt am Main 1980, S. 58–66 (alle Zitate nach dieser Ausgabe).

[2] Hofmannsthal, S. 60.

[3] Hofmannsthal, S. 60.

[4] Hofmannsthal, S. 60.

[5] Hofmannsthal, S. 61f.

[6] Hofmannsthal, S. 62.

[7] Emil Staiger: „Das Spätboot. Zu Conrad Ferdinand Meyers Lyrik“, in: E. Staiger: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich 1955, S. 260.

[8] Claude David: Zwischen Romantik und Symbolismus 1820–1885, Gütersloh 1966, S. 118.

[9] Peter Kohlhaas: „Das lyrische Werk von Conrad Ferdinand Meyer“, in: Kindlers Neues Literaturlexikon, hrsg. von Walter Jens, München 1988–92, Bd. 11, S. 611.

[10] Kohlhaas, S. 611.

[11] Vgl. Marianne Burkhard: „Bacchus biformis: Zu einem Motiv im Werk C.F. Meyers“, in: Neophilologus 55 (1971), S. 430.

[12] Staiger (1955), S. 239.

[13] Burkhard (1971), S. 428.

[14] Burkhard (1971), S. 428.

[15] Hofmannsthal, S. 62.

[16] Hofmannsthal, S. 62.

[17] Hofmannsthal, S. 63.

[18] Hofmannsthal, S. 63.

[19] Hofmannsthal, S. 63.

[20] Hofmannsthal, S. 63.

[21] Bei Hofmannsthal Gesang der Toten (S. 63).

[22] Adolf Stern: „Conrad Ferdinand Meyer“, in: A. Stern: Studien zur Literatur der Gegenwart. Neue Folge, Dresden/Leipzig 1904, S. 46.

[23] Hofmannsthal, S. 64.

[24] Heinrich Henel: The Poetry of Conrad Ferdinand Meyer, Madison 1954, S. 246.

[25] Peter K. Jansen: Rez. Beatrice Sandberg-Braun, Wege zum Symbolismus, in: Modern Philology 69 (1971/72), S. 269f.

[26] Zitiert nach: Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch, Bern 1958–96, Bd. 1, S. 26 [im Folgenden abgekürzt: SW].

[27] Vgl. Emil Staiger: „Conrad Ferdinand Meyers ‚Nachtgeräusche‘“, in: Neue Zürcher Zeitung 502 (28. März 1943), Blatt 3, Sp. 1.

[28] Staiger (1943), Sp. 1.

[29] Staiger (1955), S. 259.

[30] Staiger (1943), Sp. 1.

[31] Darauf weisen die meisten Interpreten des Gedichtes hin: vgl. Staiger (1943), Sp. 1; Karl Fehr: Der Realismus in der schweizerischen Literatur, Bern/München 1965, S. 200; Marianne Burkhard: C.F. Meyer und die antike Mythologie, Zürich 1966, S. 45; Beatrice Sandberg-Braun: Wege zum Symbolismus. Zur Entstehungsgeschichte dreier Gedichte Conrad Ferdinand Meyers, Zürich 1969, S. 53f.

[32] Zitiert nach: Homer: Odyssee, verdeutscht von Thassilo von Scheffer, Bremen o.J., S. 1.

[33] Fehr, S. 200.

[34] In Vers 2 spricht er sogar von sich selbst in der dritten Person.

[35] Staiger (1943), Sp. 1. Diese Objektivität der Darstellung unterscheidet das Gedicht auch von der Lyrik der Romantik, in der das Motiv der Nachtgeräusche ebenfalls häufig begegnet (vgl. etwa Eichendorffs Gedicht Nachts [„Ich wandre durch die stille Nacht“], 1826). Während Meyer die Geräusche der Nacht gleichmütig zur Kenntnis nimmt, wird der Romantiker durch sie beunruhigt und verwirrt; diese Haltung findet sich auch noch in einem frühen Gedicht Meyers mit dem Titel Bergwasser (vgl. dazu Sandberg-Braun, S. 67–69, sowie Jürgen Fährmann: Bildwelt und symbolische Gestaltung in der Dichtung Conrad Ferdinand Meyers. Studien zur Symbolik in den Gedichten und Novellen, Diss. Freiburg 1964, S. 23f.; das Gedicht ist abgedruckt in SW, Bd. 7, S. 509).

[36] Vgl. auch Fehr, S. 200, und Sandberg-Braun, S. 53.

[37] Sandberg-Braun, S. 54.

[38] SW, Bd. 1, S. 101.

[39] Diese Ansicht vertritt auch Fehr (S. 200).

[40] Fehr, S. 200.

[41] Fehr, S. 200.

[42] Fehr, S. 200.

[43] Fehr, S. 200.

[44] Vgl. Staiger (1943), Sp. 1.

[45] Staiger (1943), Sp. 2.

[46] Vgl. SW, Bd. 2, S. 140f.

[47] Louis Wiesmann behauptet, dass „drei Verse, die mit demselben Worte ‚dann‘ einsetzen, [...] die tatsächlich hörbaren Laute“ wiedergeben – ein Irrtum, der nur auf ungenauer Lektüre des Textes beruhen kann (vgl. Louis Wiesmann: Conrad Ferdinand Meyer. Der Dichter des Todes und der Maske, Bern 1958, S. 224).

[48] Sandberg-Braun, S. 61.

[49] SW, Bd. 6, S. 289. Das Gedicht ist in insgesamt acht Fassungen überliefert, von denen die hier wiedergegebene sechste die deutlichste Parallele zu den Nachtgeräuschen aufweist. In der endgültigen Fassung, wie sie in die Sammlung Gedichte einging, lautet die dritte Strophe folgendermaßen:

Bald nahe tost, bald fern der Wasserfall,
Er stäubt und stürzt, nun rechts, nun links verweht,
Ein tiefes Schweigen und ein steter Schall,
Ein Wind, ein Strom, ein Atem, ein Gebet!
(SW, Bd. 1, S. 113)

Zur Entstehungsgeschichte dieses Gedichtes vgl. insgesamt SW, Bd. 3, S. 21–34.

[50] Karl Pestalozzi: Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, Berlin 1970, S. 151. Pestalozzi interpretiert die verschiedenen Fassungen von Himmelsnähe ausführlich auf den Seiten 119 bis 167.

[51] SW, Bd. 6, S. 289.

[52] Henel (1954), S. 182.

[53] Henel (1954), S. 182.

[54] In ähnlicher Bedeutung kommt das Wort „Geisterlaute“ auch in dem Gedicht Ihr Heim vor; dort bezeichnet es eine imaginäre Stimme, die der Dichter aus einer Linde zu vernehmen glaubt (vgl. SW, Bd. 1, S. 216, V. 19–21).

[55] Vgl. auch das Gedicht Die Schlittschuhe, in dem der Dichter „In stiller Luft ein ungewisses Klingen, / Wie Glockenlaut, des Eises surrend Singen ...“ wahrnimmt (SW, Bd. 1, S. 99, V. 49f.).

[56] Fährmann (S. 148) weist darauf hin, dass der einfache wie-Vergleich, der in diesem Gedicht dreimal hintereinander erscheint, bei Meyer „höchst selten“ ist.

[57] Staiger (1943), Sp. 1. Dieser Deutung folgen auch Sandberg-Braun (S. 52, 62) und Pestalozzi (S. 151).

[58] Staiger (1943), Sp. 2.

[59] Dies wird auch auf der formalen Ebene durch den völlig gleichmäßigen syntaktischen Bau der Verse 8–10 unterstrichen.

[60] In der Formulierung „Murmeln eines tiefen Brunnens“ liegt eine gewisse Unstimmigkeit, die in der bisherigen  Literatur offenbar noch nicht bemerkt worden ist. Das Attribut „tief“ lässt zunächst an einen Brunnenschacht denken, dessen Boden mit Wasser bedeckt ist; von einem solchen Schacht könnte jedoch kaum gesagt werden, dass er „murmelt“. Falls es sich um ein Brunnenbecken handeln soll, in das mit einem murmelnden Geräusch Wasser einfließt, so ist das Attribut „tief“ bedeutungslos. Das Wort „Murmeln“ würde zweifellos am besten zu einer Quelle passen (vgl. Meyers Gedicht Der Gesang des Meeres, V. 13: „Rauscht im Regen! Murmelt in den Quellen!“; SW, Bd. 1, S. 183); doch auch in diesem Fall würde das Attribut „tief“ keinen rechten Sinn ergeben.

[61] Henel (1954), S. 44.

[62] Fehr, S. 200.

[63] Staigers Ansicht, die Geräusche nähmen in den Versen 8–10 „stetig wieder zu“, erscheint mir nicht nachvollziehbar (vgl. Staiger [1943], Sp. 2).

[64] Sandberg-Braun, S. 62.

[65] Wiesmann, S. 226.

[66] Staiger (1943), Sp. 2.

[67] Staiger (1943), Sp. 2; vgl. auch Sandberg-Braun, S. 63.

[68] Staiger (1943), Sp. 2.

[69] Staiger (1943), Sp. 2.

[70] Staiger (1943), Sp. 2.

[71] Die Verse 8–11 zeigen übrigens eine auffallende Regelmäßigkeit in der Verteilung der betonten Vokale, wie Staiger bemerkt hat: „Die Vokale a – u – u in ‚Atmen eines jungen Busens‘ finden ihre Antwort in dem ‚Schlagen eines dumpfen Ruders‘, etwas minder deutlich die Vokale ‚Murmeln eines tiefen Brunnens‘ in der letzten Zeile: ‚ungehörte Tritt des Schlummers‘“ (Staiger [1943], Sp. 3).

[72] Sandberg-Braun, S. 63.

[73] Sandberg-Braun, S. 59.

[74] Meyer zieht dem Wort „Schlaf“ im Allgemeinen den gehobeneren Ausdruck „Schlummer“ vor („Schlummer“ mit seinen verschiedenen Zusammensetzungen kommt in seinem Gedichtwerk 49-mal, „Schlaf“ bzw. „(ein)schlafen“ dagegen nur 14-mal vor; vgl. David Chisholm und Steven P. Sondrup: Konkordanz zu den Gedichten Conrad Ferdinand Meyers mit einem Versmaß- und Reimschemaregister, Tübingen 1982, S. 79, 339, 342f.). „Schlummer“ bezeichnet in der Regel einen leichteren, oft kürzeren Schlaf, der als „Zustand wohltuender Entspannung“ empfunden wird (vgl. Duden Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim/Wien/Zürich ²1989, S. 1332).

[75] SW, Bd. 1, S. 57, V. 5f.

[76] SW, Bd. 1, S. 121, V. 15f.  Weitere Beispiele sind die Gedichte Die kleine Blanche, Im Spätboot, Nach einem Niederländer, Das Ende des Festes, Weihgeschenk, Cäsar Borjas Ohnmacht und Pergoleses Ständchen.

[77] SW, Bd. 1, S. 28, V. 13–16.

[78] Vgl. David A. Jackson: Conrad Ferdinand Meyer mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1975, S. 40.

[79] SW, Bd. 1, S. 75. Auch in dem Gedicht Die toten Freunde (das in Meyers Gedichtsammlung unmittelbar auf Nachtgeräusche folgt) ist die Tiefe des Sees das Totenreich, in dem sich die verstorbenen Freunde des Dichters befinden.

[80] Fährmann, S. 34.

[81] Zur Wassermotivik bei Meyer vgl. insgesamt Fährmann, S. 16–37.

[82] Auf Charon weisen fast alle Interpreten des Gedichtes hin: vgl. Staiger (1943), Sp. 1; Fehr, S. 201; Sandberg-Braun, S. 57.

[83] Vgl. Henel (1954), S. 102f., sowie Henel: „Conrad Ferdinand Meyer: Lyrik der Beschaulichkeit“, in: Monatshefte 60 (1968), S. 231.

[84] Für die symbolische Interpretation spricht außerdem die Stellung des Gedichtes innerhalb der Meyerschen Gedichtsammlung: Es steht zwischen den Gedichten Schwarzschattende Kastanie, in dem das Motiv der anbrechenden Nacht als Symbol für den Tod verwendet wird, und Die toten Freunde, das eine Reihe „ausgesprochene[r] Todesgedichte“ einleitet (vgl. Walther Brecht: Conrad Ferdinand Meyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung, Wien/Leipzig 1918, S. 29).

[85] Max Nußberger: Conrad Ferdinand Meyer. Leben und Werke, Frauenfeld 1919, S. 222.

[86] Vgl. Sandberg-Braun, S. 46.

[87] Vgl. Adolf Frey: Conrad Ferdinand Meyer. Sein Leben und seine Werke, Stuttgart 1900, S. 191; August Langmesser: Conrad Ferdinand Meyer. Sein Leben, seine Werke und sein Nachlaß, Berlin ²1905, S. 61. Karl Fehr (S. 199) vertritt diese Auffassung sogar noch 1965.

[88] Sandberg-Braun, S. 46.

[89] Zur Entstehungsgeschichte vgl. insgesamt SW, Bd. 2, S. 139–144, sowie Sandberg-Braun, S. 45–66.

[90] Sandberg-Braun, S. 47.

[91] SW, Bd. 2, S. 142.

[92] Der Aufsatz ist abgedruckt in SW, Bd. 15, S. 190–222 (zur Entstehungsgeschichte vgl. ebd. S. 668–674).

[93] Johann Georg Zimmermann: Ueber die Einsamkeit. Vierter Theil, Karlsruhe 1785, S. XIV.

[94] SW, Bd. 15, S. 221.

[95] Zimmermann, S. 74–76.

[96] SW, Bd. 2, S. 140. Die in eckigen Klammern stehenden Verse wurden von Meyer „als mißfallend ohne Ersatz gestrichen“ (ebd.).

[97] Das Wort „atmen“ findet sich zwar auch bei Zimmermann, es ist jedoch dort auf den Dichter selbst bezogen und beschreibt außerdem keinen Gehörs-, sondern einen Geruchseindruck.

[98] SW, Bd. 2, S. 140f.

[99] Vgl. Staiger (1955), S. 268, und Kohlhaas, S. 610.

[100] SW, Bd. 2, S. 141.

[101] Sandberg-Braun, S. 52.

[102] Ein mit dem dritten Vergleich verwandtes Motiv fand sich jedoch schon bei Zimmermann („höret [man] von ferne, den Kahn des langsam herbeyrudernden Schiffers“); außerdem kam dort auch das Wort „murmeln“ bereits vor (allerdings bezogen auf den Bach).

[103] SW, Bd. 2, S. 141f.

[104] SW, Bd. 2, S. 142.

[105] SW, Bd. 2, S. 142.

[106] Sandberg-Braun, S. 46.

[107] Dass sich für Meyer „die Eindrücke der Gegenwart [...] nie unmittelbar zum Gedichte gestalteten, sondern, um zum bildsamen Stoff zu werden, in der Seele des Dichters vorerst versinkend und untergehend, sich verwandeln mußten“, hatte schon seine Schwester Betsy erkannt (vgl. Betsy Meyer: Conrad Ferdinand Meyer. In der Erinnerung seiner Schwester Betsy Meyer, Berlin ²1903, S. 168f.).

[108] Sandberg-Braun, S. 58.

[109] Sandberg-Braun, S. 58.


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