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Interpretation von Annette von Droste-Hülshoff:
Mondesaufgang


Einleitung

Die meisten lyrischen Dichtungen Annette von Droste-Hülshoffs sind mehr oder weniger deutlich autobiografisch geprägt. Wie kaum ein anderer Dichter ihrer Zeit wagte sie es, ihre persönlichsten Empfindungen, Sehnsüchte und Ängste lyrisch zu gestalten, ihr Inneres, ihre psychische Situation der Welt zu offenbaren. Die Ich-Figur in ihrer Lyrik ist kein bloßes Rollen-Ich oder ein rein fiktives Erlebnis-Ich, sondern fast stets – und kaum verhüllt – das individuelle Ich der Autorin;[1] ebenso ist auch die äußere Realität, der sich dieses Ich gegenübergestellt sieht, keine abstrakte, fiktive Welt, sondern der konkrete Erfahrungsbereich der Dichterin – in den Heidebildern etwa ist dies ihre westfälische Heimat, in den Seegedichten der Bodensee bzw. die Meersburg.[2] Eine sorgfältige Analyse ihrer Gedichte muss daher immer die Biografie, den Lebenshintergrund mitberücksichtigen, denn viele Aussagen entfalten erst im Licht dieser außerliterarischen Bezüge ihre volle Bedeutung. Auch die vorliegende Arbeit, die dem 1844 entstandenen und allgemein zu den besten Schöpfungen der Autorin gerechneten Gedicht Mondesaufgang gewidmet ist, beginnt mit einer ausführlichen Schilderung des biografischen Hintergrundes und der Entstehungsgeschichte als Grundlage für die Deutung, die den zweiten Teil der Arbeit bildet. Dabei wird zum einen zu zeigen sein, wie sich die scheinbar bloß stimmungshafte Beschreibung eines Mondesaufgangs über dem Bodensee allmählich zu einem eindringlichen Selbstportrait der Dichterin ausweitet; zum anderen soll versucht werden, thematische und motivische Parallelen zu anderen Gedichten der Autorin aufzuzeigen.


Biografischer Hintergrund

Das Gedicht Mondesaufgang entstand im März des Jahres 1844,[3] also während Annette von Droste-Hülshoffs zweitem Aufenthalt auf der Meersburg. In welcher Lebenssituation und psychischen Verfassung sich die Dichterin zu dieser Zeit befand, lässt sich am besten verdeutlichen, wenn man den zweiten Meersburg-Aufenthalt mit dem glücklicheren ersten kontrastiert. Wir greifen daher bei der Darstellung des biografischen Hintergrundes etwas weiter zurück und beziehen den ersten Aufenthalt mit ein.

Im Oktober 1834 vermählte sich Annettes Schwester Jenny (geb. 1795) mit dem verwitweten österreichischen Freiherrn Joseph von Laßberg (geb. 1770), den sie drei Jahre zuvor in der Schweiz kennengelernt hatte.[4] Das Paar ließ sich zunächst in Eppishausen im Thurgau nieder, siedelte jedoch 1839 nach Meersburg am Bodensee über, wo Laßberg das Alte Schloss gekauft hatte.[5] Annette besuchte Meersburg erstmals Ende September 1841, nachdem sie die Reise immer wieder hinausgeschoben hatte;[6] ihr Aufenthalt dauerte bis Ende Juli 1842, also genau zehn Monate.[7] Von Oktober 1841 bis April 1842 weilte auch Annettes jugendlicher Freund Levin Schücking auf der Meersburg, um einen Katalog von Laßbergs bedeutender Handschriftensammlung zu erstellen.[8] Schücking, geboren 1814, war der Sohn einer früh verstorbenen Freundin Annettes, Catharine Schücking geb. Busch, die ihn kurz vor ihrem Tod im Jahre 1831 möglicherweise der besonderen Fürsorge ihrer Freundin anbefohlen hatte;[9] fest steht jedenfalls, dass Annette dem 17 Jahre jüngeren Levin von Anfang an in mütterlicher Liebe zugetan gewesen war.[10] Als Levin 1837 nach sechsjähriger Abwesenheit wieder nach Münster zurückgekommen war – nun ein stattlicher junger Mann von 23 Jahren –, hatten sich zu diesen mütterlichen zunehmend auch freundschaftliche, ja liebende Gefühle gesellt, und zwischen diesen beiden Polen – mütterliche Fürsorge einerseits, frauliche Liebe andererseits – blieb Annette zeit ihres Lebens hin- und hergerissen.[11] Die sechs Monate, die sie nun zusammen mit ihrem Freund auf der Meersburg verbringen durfte, gehören zu den glücklichsten Zeiten ihres Lebens. Schückings Arbeit in Laßbergs Bibliothek ließ ihm noch genügend Zeit für Zusammenkünfte, Gespräche und ausgedehnte Spaziergänge mit der Freundin,[12] und seine Anwesenheit hatte auch auf ihre dichterische Produktion eine äußerst inspirierende Wirkung, sodass sie sogar eine Wette mit ihm abschloss, binnen Jahresfrist einen kompletten Gedichtband fertigzustellen.[13] Von einer Erfüllung ihrer Liebe zu Levin darf freilich nicht ausgegangen werden – obwohl Levin die wahre Art ihrer Gefühle durchaus erkannt haben dürfte,[14] blieb Annette für ihn zeitlebens die mütterliche Freundin, das „Mütterchen“, wie er sie zu nennen pflegte.[15] Gerade diese Hoffnungslosigkeit ihrer Liebe mag es jedoch gewesen sein, die Annette dazu „befähigte, das Äußerste an Kunst zu erreichen“[16] – unter den 54 Gedichten, die während Schückings Aufenthalt auf der Meersburg entstanden, befinden sich einige ihrer größten und bedeutendsten (so etwa Die Schenke am See, Der Knabe im Moor, Am Thurme, Die Taxuswand, Im Moose, Mein Beruf, Meine Todten, Am Bodensee, Das alte Schloss, Das Spiegelbild, Das Hirtenfeuer, Der Hünenstein und Die Mergelgrube).[17]

Als Schücking am 2. April 1842 die Meersburg verließ, um eine Stellung als Hauslehrer zu übernehmen, geriet Annettes Produktivität zunächst ins Stocken.[18] Die Dichterin versank in Einsamkeit, durchlebte „quälende Perioden innerer Öde“[19]; zu den Bekannten der Familie Laßberg aus Meersburg und der näheren Umgebung ergab sich nur ein oberflächlicher Kontakt, der die freundschaftlich-künstlerische Gemeinschaft mit Schücking nicht ersetzen konnte. Obwohl Annette wusste, „daß es für ihre Liebe zu Levin keine Zukunft“ gab, setzte sie „in ihren Briefen an ihn alles daran, etwas von dem verlorenen Paradies der Meersburger Monate [...] zu retten.“[20] Täglich suchte sie die Stätten auf, an denen sie mit Levin gewesen war, und sie beschwor ihn, seinen Plan, sie in zwei Jahren in Münster zu besuchen, nicht aufzugeben.[21] Ende April setzte dann wieder eine neue Phase literarischer Produktivität ein; noch in Meersburg stellte sie auch erste Überlegungen zur Herausgabe einer neuen Gedichtausgabe an.[22]

Nach ihrer Abreise am 29. Juli 1842 kehrte Annette ins Rüschhaus zurück, jenes Landhaus in der Nähe von Münster, das sie und ihre Mutter seit der Heirat ihres Bruders Werner im Jahre 1826 bewohnten.[23] Bis zum Juni 1843 lebte sie dort „nach der alten Weise still vor [sich] hin“, wie sie selbst schrieb.[24] Einen großen Teil ihrer Zeit brachte sie mit der Vorbereitung ihrer Gedichtausgabe zu; es entstanden auch zehn neue Gedichte, „die sämtlich gekennzeichnet sind durch rückwärtsgewandte Wehmut und gegenwartverneinende Resignation.“[25] Auch ihre Briefe an Schücking wurden weiterhin von wehmütiger Erinnerung an die Meersburger Zeit bestimmt; sie teilte ihm mit, wie sehr er ihr fehle, und bat ihn, ihr regelmäßig zu schreiben.[26] Ihre ohnehin labile Gesundheit war während dieser Zeit im Rüschhaus besonders schwach: Ab August litt sie mehrere Monate lang an Schwindel, Übelkeit, Ohrensausen und Beklemmung;[27] im Januar 1843 setzte eine sechswöchige, zum Teil schwere Erkrankung mit heftigem Husten, Fieber und depressiven Stimmungen ein, sodass die Angehörigen zeitweise ihren Tod befürchteten.[28] Im März kam es erneut zu einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes: Acht Tage schwebte Annette in Lebensgefahr; man diagnostizierte „innere Nervenkrämpfe“.[29] Ab Mitte März trat eine Besserung ein, doch die Dichterin litt weiter an „Lebensmutlosigkeit“.[30] Zu den körperlichen Problemen kamen seelische: Schücking hatte eine Heirat ins Auge gefasst und zu diesem Zweck im August oder September 1842 einen Briefwechsel mit der Schriftstellerin Louise von Gall, der Tochter eines hessischen Generals, begonnen.[31] Gegenüber Annette erwähnte er Louise erstmals in seinem (verlorengegangenen) Brief vom 2. November 1842.[32] Annette riet ihm von einer übereilten Bindung an Louise ab,[33] wobei sie versuchte, ihre Eifersucht unter einem „scheinbar sachlichen, gutmeinenden, kameradschaftlichen“[34] Ton zu verbergen. Schücking freilich schlug alle Ratschläge in den Wind; am 6. Juni 1843 teilte er Annette seine Verlobung mit.[35] In der Folgezeit erkaltete die Beziehung zwischen Annette und ihm immer mehr, auch wenn sie in ihren Briefen versuchten, „zum alten vertraulichen Ton“ zurückzufinden.[36]

Die Monate Juni bis August 1843 verbrachte Annette bei ihren Verwandten in Abbenburg, wo sie durch familiäre Verpflichtungen, Besuche usw. ständig in Anspruch genommen war – eine ihr durchaus willkommene Ablenkung, die sie allmählich in eine bessere Stimmung versetzte.[37] Aus ihren Briefen gewinnt man den Eindruck, „dass das Ärgste, das Empfindungschaos von Eifersucht, Enttäuschung, Selbstquälung und Lebensmüdigkeit überwunden, die notwendige, wenn auch noch fragile Fassung wiedergewonnen war“.[38] Nach einem kurzen Aufenthalt im Rüschhaus reiste sie im September erneut nach Meersburg ab, diesmal zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Freundin Elise Rüdiger. Am 3. Oktober trafen sie an ihrem Ziel ein.[39]

Annettes zweiter Aufenthalt auf der Meersburg gestaltete sich von Anfang an anders als ihr erster. Dies zeigte sich bereits rein äußerlich daran, dass sie ihre frühere Wohnung nicht wieder bekam, sondern nur einen kurzen Blick hineinwerfen konnte.[40} An den gelehrten Gesprächen Laßbergs mit seinen Philologenfreunden zeigte sie nach wie vor wenig Interesse; stattdessen unternahm sie ausgedehnte Spaziergänge mit Elise Rüdiger, die jedoch bereits am 14. Oktober abreiste.[41] Jetzt war Annette wieder ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Sie führte ein einsames, zurückgezogenes Leben; die Kontakte mit Meersburger Bekannten blieben oberflächlich.[42] Am 7. Oktober hatten Schücking und Louise von Gall geheiratet[43] – Annettes Mahnung an Levin, sich nicht so leichtsinnig zu verheiraten, wie er sich verlobt habe, blieb ungehört[44] –, knapp zwei Wochen später trat Schücking eine neue Stelle als zweiter Redakteur bei der Augsburger Allgemeinen Zeitung an.[45] Annette beschäftigte sich jetzt sehr intensiv mit der Zusammenstellung ihrer Gedichtausgabe; im Januar 1844 schloss sie die Reinschrift ab und schickte sie Schücking, der sie an den Verleger Cotta in Stuttgart weiterleiten sollte.[46] Cotta setzte nach einigen Verhandlungen mit Schücking und Annette die Auflagenhöhe auf 1200 Exemplare und das Autorenhonorar auf 875 Gulden (500 Reichstaler) fest.[47] Die Korrespondenz zwischen Annette und den Schückings hielt währenddessen an, beschränkte sich jedoch im Wesentlichen auf den Austausch von Sachinformationen;[48] die frühere Vertraulichkeit und Intimität war weitgehend geschwunden. In einem Brief an Elise Rüdiger vom 3. April 1844 zeichnete Annette sogar ein sehr negatives Bild von Louise Schücking, der sie Verstellung vorwarf; auch fällte sie ein vernichtendes Urteil über Schückings literarische Arbeiten und vertrat die Auffassung, er lebe über seine Verhältnisse.[49]

Im Mai statteten Levin und Louise Schücking Annette einen bereits seit längerem geplanten Besuch in Meersburg ab.[50] Sie wohnten nicht im Schloss, sondern in einem Gasthaus in der Stadt, wurden jedoch sehr häufig von den Laßbergs zum Essen oder zu gemeinsamen Unternehmungen eingeladen.[51] Für Annette war es die erste Begegnung mit Levin seit über zwei Jahren; sie machte auf ihn einen melancholischen und kränklichen Eindruck.[52] Die alte Vertrautheit wollte sich freilich nicht wieder einstellen – wie es scheint, benahmen sich die Schückings recht rücksichtslos gegenüber Annette, sodass sich diese „wie alt“ behandelt vorkam.[53] Wahrscheinlich kam es sogar zu einer ernsten Verstimmung zwischen ihnen; der Grund dafür könnte – wie Elise Rüdiger 40 Jahre später in einem Brief an den Droste-Biografen Hermann Hüffer mutmaßte – darin gelegen haben, dass Louise den Gesang Annettes getadelt habe, wodurch diese sehr habe getroffen werden können. Jedenfalls habe Annette ihrerseits den Gesang Louises später als „laut“ und „falsch“ bezeichnet.[54]

Am 30. Mai reisten Levin und Louise Schücking nach gut dreiwöchigem Aufenthalt wieder ab. Annette musste nun endgültig einsehen, dass die Gemeinschaft mit Levin, „von der sie bis dahin dachte, sie lasse sich durch Briefe erhalten“,[55] zerstört war; auch die alten Stätten, an denen sie mit ihm gewesen war, besuchte sie jetzt nicht mehr.[56] Sie suchte Halt in der Freundschaft mit der jungen Philippa Pearsall, der Tochter eines englischen Komponisten, die auf Schloss Wartensee bei Rorschach wohnte;[57] doch musste sie sich in einem Brief an Schücking vom 20. Juni beklagen, dass sich für ihre literarischen Arbeiten niemand von ihren Meersburger Bekannten wirklich interessiere.[58] Erst das Erscheinen ihres Gedichtbandes im September brachte ihr die erhoffte Anerkennung – das Buch hatte Erfolg und „befestigte unter Kennern ihre Geltung als bedeutende deutsche Dichterin“.[59] Noch im selben Monat reiste Annette zusammen mit ihrer Mutter von Meersburg ab.[60] Ein Jahr später sollte sie – nun zum letzten Mal – hierher zurückkehren. „Noch dreieinhalb Jahre hatte sie zu leben, Jahre, um in konzentrischen Kreisen immer dichterer Einsamkeit endlich den ersehnten Mittelpunkt endgültiger Stille zu finden.“[61]


Entstehungsgeschichte

Mondesaufgang gehört zu einer Gruppe von sechs Gedichten, die Annette von Droste-Hülshoff am 17. April 1844 zur Veröffentlichung an Levin Schücking sandte.[62] Wo die Gedichte gedruckt werden sollten, war zunächst offenbar nicht ganz klar. Zum einen hatte der Verleger Cotta Annette im Dezember 1843 um weitere Beiträge für das von ihm herausgegebene Morgenblatt, wo 1842 auch die Judenbuche erschienen war, gebeten;[63] zum anderen beabsichtigte Schücking selbst, zusammen mit Emanuel Geibel einen Musenalmanach auf das Jahr 1845 herauszugeben, in dem auch Gedichte Annettes enthalten sein sollten.[64] Am 4. März 1844 teilte Annette Schücking mit, sie habe schon einige ‚kleinere Gedichte (5–6 Strophen)‘ für das Morgenblatt im Sinn;[65] knapp drei Wochen später, am 24. März, konnte sie ihm bereits über die Fertigstellung von sechs Gedichten berichten.[66] Diese sechs ursprünglich für das Morgenblatt vorgesehenen Gedichte (es handelte sich um die Texte Der sterbende General, Mondesaufgang, Gemüth, Sylvesterabend, Einer wie Viele, und Viele wie Einer sowie Der Nachtwandler) schickte sie dann am 17. April an Schücking, und zwar offenbar als Beitrag für dessen Musenalmanach.[67] Schücking sollte auch die endgültige Textgestalt der Gedichte festlegen, da Annette sich an mehreren Stellen nicht zwischen zwei Varianten hatte entscheiden können[68] (im Falle von Mondesaufgang betraf dies nur den 5. Vers der 1. Strophe, wo sie die Lesarten „Stöhnen“ und „Dehnen“ vorschlug; Schücking entschied sich für „Dehnen“[69]). Die von Annette gewünschte geschlossene Veröffentlichung der Gedichtgruppe – auch die Reihenfolge sollte möglichst nicht verändert werden[70] – kam freilich nicht zustande, denn das Musenalmanachprojekt scheiterte;[71] stattdessen wurden die Gedichte später verstreut gedruckt – Mondesaufgang erschien erst im Rheinischen Taschenbuch auf das Jahr 1846, dessen Herausgeber Carl Ferdinand Dräxler-Manfred sich Anfang 1845 an Schücking mit der Bitte um ein Gedicht Annette von Droste-Hülshoffs gewandt hatte.[72] Schücking sagte ihm Mondesaufgang zu, womit sich Annette am 5. März einverstanden erklärte.[73] Veröffentlicht wurde das Rheinische Taschenbuch auf das Jahr 1846 am 29. August 1845.[74]


Deutung

Mondesaufgang

An des Balkones Gitter lehnte ich
Und wartete, du mildes Licht, auf dich;
Hoch über mir, gleich trübem Eiskrystalle,
Zerschmolzen, schwamm des Firmamentes Halle,
Der See verschimmerte mit leisem Dehnen,
– Zerflossne Perlen oder Wolkenthränen? –
Es rieselte, es dämmerte um mich,
Ich wartete, du mildes Licht, auf dich!

Hoch stand ich, neben mir der Linden Kamm,
Tief unter mir Gezweige, Ast und Stamm,
Im Laube summte der Phalänen Reigen,
Die Feuerfliege sah ich glimmend steigen;
Und Blüthen taumelten wie halb entschlafen;
Mir war, als treibe hier ein Herz zum Hafen,
Ein Herz, das übervoll von Glück und Leid,
Und Bildern seliger Vergangenheit. 

Das Dunkel stieg, die Schatten drangen ein, –
Wo weilst du, weilst du denn, mein milder Schein! –
Sie drangen ein, wie sündige Gedanken,
Des Firmamentes Woge schien zu schwanken,
Verzittert war der Feuerfliege Funken,
Längst die Phaläne an den Grund gesunken,
Nur Bergeshäupter standen hart und nah,
Ein düstrer Richterkreis, im Düster da.

Und Zweige zischelten an meinem Fuß,
Wie Warnungsflüstern oder Todesgruß,
Ein Summen stieg im weiten Wasserthale
Wie Volksgemurmel vor dem Tribunale;
Mir war, als müsse Etwas Rechnung geben,
Als stehe zagend ein verlornes Leben,
Als stehe ein verkümmert Herz allein,
Einsam mit seiner Schuld und seiner Pein.

Da auf die Wellen sank ein Silberflor,
Und langsam stiegst du, frommes Licht, empor;
Der Alpen finstre Stirnen strichst du leise,
Und aus den Richtern wurden sanfte Greise,
Der Wellen Zucken ward ein lächelnd Winken,
An jedem Zweige sah ich Tropfen blinken,
Und jeder Tropfen schien ein Kämmerlein,
Drin flimmerte der Heimathlampe Schein.

O Mond, du bist mir wie ein später Freund,
Der seine Jugend dem Verarmten eint,
Um seine sterbenden Erinnerungen
Des Lebens zarten Widerschein geschlungen,
Bist keine Sonne, die entzückt und blendet,
In Feuerströmen lebt, in Blute endet, –
Bist, was dem kranken Sänger sein Gedicht,
Ein fremdes, aber o ein mildes Licht![75]

Worum geht es in diesem Gedicht? Annette von Droste-Hülshoff beschreibt in sechs achtzeiligen Strophen einen scheinbar recht alltäglichen Vorgang: den Aufgang des Mondes über dem Bodensee[76] – oder genauer: einen Aufgang des Mondes über dem Bodensee, denn offenbar handelt es sich (wie an der Zeitform des Präteritums zu erkennen ist) um ein konkretes Einzelereignis, das hier aus der Erinnerung nacherzählt wird.[77] Es geht der Dichterin dabei freilich nicht um eine bloße Naturschilderung, um eine objektive, emotionslose Darstellung der äußeren Wirklichkeit; im Vordergrund stehen vielmehr die Auswirkungen der wechselnden Naturszenerie auf den inneren Zustand des Lyrischen Ichs, denn jede Veränderung in der äußeren Natur hat auch eine Veränderung in dessen Seele zur Folge. Man kann daher von einer Art „Zwiesprache“ zwischen den beiden Erlebnisbereichen Natur und Seele sprechen[78] – sie sind gewissermaßen zwei Stimmen, die „einander ablösen“ oder auch „zusammenklingen“.[79]

Seiner äußeren Struktur nach lässt sich das Gedicht in drei Sinneinheiten zu je zwei Strophen aufteilen. Der erste Teil (Strophen 1–2) schildert das Warten des Lyrischen Ichs auf den Mond in der Dämmerung kurz nach Sonnenuntergang; der zweite Teil (Strophen 3–4) beschreibt die völlige Dunkelheit zwischen Sonnenuntergang und Mondesaufgang, die von der Dichterin als existentielle Bedrohung empfunden wird. Im dritten Teil schließlich (Strophen 5–6) erscheint der ersehnte Mond; er vertreibt die Dunkelheit der Natur und erlöst die Dichterin aus ihrer seelischen Not. Clemens Heselhaus hat diese drei Stadien treffend mit „Erwartung“, „Bedrohung“ und „Erfüllung“ überschrieben[80] – ein Vorschlag, dem wir uns im Folgenden anschließen wollen.


Erwartung (Strophen 1–2)

Die Ausgangssituation des Gedichtes Mondesaufgang ist dieselbe wie die des etwa zweieinhalb Jahre früher entstandenen Am Thurme: Die Dichterin steht auf einem Balkon der Meersburg und blickt auf den Bodensee und die ihn umgebende Natur hinab. Atmosphäre und Stimmung der beiden Gedichte sind jedoch völlig verschieden: Wurden in Am Thurme die Aufgewühltheit der stürmischen Natur und die damit verbundene innere Aufgewühltheit der Dichterin und ihre Sehnsucht nach Lebensintensität geschildert, herrscht in Mondesaufgang von Anfang an ein verhaltener, ruhiger, ja melancholischer Ton, der sich bereits in den ersten Worten durch das gleichmäßig fließende Metrum (es handelt sich um fünfhebige Jamben) zu erkennen gibt. Auch das Tempus unterstützt diesen Eindruck: Nicht die Lebhaftigkeit des Präsens, sondern die Ruhe und Abgeklärtheit des Präteritums bestimmt das Gedicht. Selbst die Körperhaltung der Dichterin unterstreicht den Unterschied zwischen den beiden Texten: In Am Thurme stand sie auf dem Balkon und ließ ihr Haar im Wind flattern, bereit, sich der Intensität eines freien, abenteuerlichen Lebens hinzugeben; jetzt lehnt sie am Gitter des Balkons, ruhig und ergeben, in die Betrachtung des allmählichen Verdämmerns und Verschimmerns der Natur versunken. Der Bezug zur Biografie der Dichterin ist offensichtlich: Am Thurme entstand während ihres ersten Aufenthalts auf der Meersburg im Winter 1841/42, einer für sie sehr glücklichen Zeit, wie wir gesehen haben, in der sie durch die tägliche Anwesenheit Schückings inspiriert und belebt wurde, was sich hier in ihrem Wunsch äußert, am Leben in all seinen Facetten intensiv teilzunehmen; Mondesaufgang dagegen wurde während des zweiten Aufenthalts am Bodensee verfasst – die Beziehung zu Schücking war weitgehend erkaltet, hatte zumindest ihre frühere Vertrautheit eingebüßt, und es gab für Annette niemanden, der Schückings Platz als Freund und künstlerischer Vertrauter einnehmen konnte. Von dieser Einsamkeit legt das Gedicht ein beredtes Zeugnis ab: Annette wendet sich nicht mehr an Menschen, sondern an den Mond, der ihr, wie wir in Strophe 6 noch sehen werden, wie ein „später Freund“ erscheint. Das Gedicht ermöglicht so einen Einblick in das Seelenleben, in die psychische Verfassung der alternden Dichterin wenige Jahre vor ihrem Tod.

Die ersten beiden Strophen beschreiben die Sinneseindrücke der Dichterin, die sie empfängt, während sie in der Abenddämmerung auf das Aufgehen des Mondes wartet. Der Mond wird übrigens außer in der Überschrift und in Vers 41 nie direkt als „Mond“, sondern meist umschreibend als „mildes Licht“ (Verse 2, 8, 48) oder als „milder Schein“ (Vers 18) bezeichnet. Damit ist bereits eine wesentliche Eigenschaft des Mondes angesprochen: Er gibt einen milden, d.h. sanften, gedämpften Schein, womit er im Gegensatz zum grellen Licht der Sonne steht – ein Unterschied, der für das Verständnis des Gedichtes von außerordentlicher Bedeutung ist und auf den wir bei der Besprechung der letzten Strophe noch einmal ausführlich zurückkommen werden. Was sieht die Dichterin nun, während sie auf den Mond wartet? Zunächst nimmt sie die letzten Spuren der Abenddämmerung wahr: Der Himmel erscheint grau, wie trüber, zerschmolzener Eiskristall (man wird hier mit Margaret Mare an das „dirty ice of a thaw in mountainous regions“[81] denken können); der See „verschimmert mit leisem Dehnen“, d.h. er verliert in der Dämmerung allmählich und unmerklich seine Konturen,[82] wobei er auf die Dichterin wie „zerflossne Perlen oder Wolkenthränen“ wirkt. Ob man diesen Vergleich metaphorisch deuten kann, wie es Wilhelm Gössmann tut – er sieht in den „zu Tränen zerflossene[n] Perlen [...] Leid, das sich aus der Erstarrung gelöst hat“[83] –, sei einmal dahingestellt;[84] auffallend ist jedenfalls, dass sowohl der See als auch der Himmel nicht als unteilbare Massen, sondern als Ansammlungen aufgelöster Einzelelemente gesehen werden. Diese Tatsache spiegelt zum einen sicherlich Annette von Droste-Hülshoffs Vorliebe für das Kleine, Unscheinbare wider; wichtiger ist jedoch, dass die Ausdrücke des Zerfließens, Zerschmelzens und Verschimmerns, die den Übergang vom Hellen zum Dunkeln beschreiben, sowie das Wort „Wolkenthränen“ in Vers 6 eine gewisse Wehmut und Melancholie ausstrahlen, wodurch die Stimmung der 1. Strophe entscheidend mitbestimmt wird. Auf der Ebene der äußeren Realität mag Annette bei den „Wolkenthränen“ an Regentropfen gedacht haben, die auf den See fallen, denn aus Vers 7 geht eindeutig hervor, dass ein leichter Regen niedergeht („Es rieselte [...] um mich“[85]); zudem hatte die Dichterin in dem Gedicht Am dritten Sonntage nach Ostern aus dem Geistlichen Jahr bereits eine ähnliche Formulierung für den Regen verwendet:

Das Dunkel weicht;
Und wie ein leises Weinen fällt herab
Der Wolkenthau [...].[86]

In diesem Gedicht kündigte der Regen den Durchbruch der Sonne durch die Gewitterwolken und das Erscheinen des Regenbogens an, womit eine erlösende, befreiende Wirkung verbunden war: Die Strahlen der Sonne wurden als „Gnadenstab“, der Regenbogen als „Friedensbogen“ gesehen. Auch in Mondesaufgang folgt auf den Regen eine Himmelserscheinung, die erlösend wirkt; die Bedrohung freilich, von der sie das Lyrische Ich erlöst, ist in den ersten beiden Strophen noch kaum zu spüren. Lediglich die Tatsache, dass die Anrufung des Mondes im letzten Vers der 1. Strophe wiederholt wird, deutet darauf hin, dass die Dichterin innerlich nicht ganz ruhig ist, dass sie die Bedrohung, die das Hereinbrechen völliger Dunkelheit für sie bedeuten wird, bereits ahnt.

In der 2. Strophe wendet sich das Lyrische Ich, nachdem es bis dahin die weitere Umgebung und die unbelebte Natur beschrieben hat, der näheren Umgebung und der belebten Natur zu. Die Reihenfolge der Wahrnehmung ist dieselbe wie in der 1. Strophe: Zuerst richtet sich der Blick nach oben, dann nach unten. „Hoch stand ich“ – diese Positionsbestimmung erinnert noch einmal deutlich an das Gedicht Am Thurme, das mit den Worten begann:

Ich steh’ auf hohem Balkone am Thurm[87].

Wie groß der Abstand zwischen dem Balkon und der Erde ist, wird daran deutlich, dass sich „der Linden Kamm“ nicht über, sondern neben der Dichterin befindet; um „Gezweige, Ast und Stamm“ sehen zu können, muss sie nach unten blicken. Dabei nimmt sie nun auch die Insekten wahr, die im und um den Baum herumfliegen; konkret werden genannt Phalänen (= Nachtfalter)[88] und Feuerfliegen. Erstere kann die Dichterin in Anbetracht der zunehmenden Dunkelheit offenbar nicht mehr sehen, denn sie hört sie lediglich „summen“; Letztere dagegen werden, da sie „glimmen“, erst im Dunkeln wirklich sichtbar. Für solche kleinen, unscheinbaren Tiere hatte Annette von Droste immer eine besondere Vorliebe, wie aus dem 1846 entstandenen Gedicht An einem Tag wo feucht der Wind[89] deutlich zu ersehen ist; die Vermutung liegt daher nahe, dass das Spiel der Phalänen und Feuerfliegen in dem Erwartungszustand, in dem sich die Dichterin in den ersten beiden Strophen von Mondesaufgang befindet, eine positive, beruhigende Wirkung auf sie ausübt.[90] Ähnliches gilt für die Blüten,[91] die vor den Augen der Dichterin „taumeln wie halb entschlafen“. „Entschlafen“ bedeutet hier sicherlich nicht „gestorben“, sondern „eingeschlafen“ (eine Verwendungsweise, die schon zur Zeit der Dichterin veraltet war[92]); die Vorstellung des Todes würde nur schwer in die positiv-verklärte Stimmung der Verse 11–13 passen und auch mit dem unmittelbar vorausgehenden Wort „taumeln“ nicht recht harmonieren. Dieses Wort ist hier völlig frei von der negativen Konnotation, die ihm heute oft anhaftet; zu denken ist eher an einen „süßen Taumel“, an die selige Benommenheit des Halbschlafs, die auch die Atmosphäre des Gedichtes Im Grase bestimmt. In der Realität ist der „Taumel“ der Blüten vielleicht nichts weiter als ein leichtes Hin- und Herschwanken im Wind oder auch nur ein Verschwimmen der Konturen in der Dämmerung, wodurch die Blüten zu tanzen scheinen;[93] indem die Dichterin diesen Vorgang jedoch auf sehr bildhafte, poetische Weise beschreibt, verlässt sie unmerklich den Bereich der äußeren Wirklichkeit und begibt sich in die Welt ihrer eigenen Empfindungen, denen die letzten drei Verse der 2. Strophe ausschließlich gewidmet sind. In diesen drei Versen schildert Annette von Droste-Hülshoff die Wirkung der Naturszenerie auf ihr Inneres, auf ihre seelische Verfassung. Zwar stehen die Verse (ebenso wie die mit denselben Worten beginnenden Schlusszeilen der 4. Strophe) in der dritten Person – es ist nur allgemein von „einem Herzen“ die Rede, dessen Gefühle die Dichterin scheinbar als Außenstehende wiedergibt –, doch die Intensität, mit der sie in der letzten Strophe den Mond anruft, lässt keinen Zweifel daran, dass die Dichterin im gesamten Gedicht von sich selbst spricht, von ihrem eigenen Herzen, das die geschilderte Entwicklung durchgemacht hat. Am Ende der 2. Strophe ist ihre Stimmung noch ruhig und verklärt: Die Bilder des sich seinem Ende zuneigenden Tages bewirken in ihr eine Vorstellung von Heimkehr und Erlösung, verbunden mit einer wehmütigen Rückschau auf ihr Leben. Sie hat in ihrem Leben alles erfahren, sowohl Glück als auch Leid – beides in reichem Maße, sodass ihr Herz noch immer „übervoll“ davon ist; und wenn auch in anderen Gedichten ihre Leiderfahrungen überwiegen (so etwa in dem Gedicht Am Sonntage nach Weihnachten aus dem Geistlichen Jahr, wo sie klagt:

Wer konnt so vieles Leid erfahren
An Körpernoth und Seelenleiden [...]?[94]),

so scheinen doch hier die glücklichen Erinnerungen im Vordergrund zu stehen, denn in Vers 16 erwähnt die Dichterin noch einmal ausdrücklich die „Bilder seliger Vergangenheit“, auf die sie zurückblickt. Vielleicht wurden diese Erinnerungen durch den Anblick des Sees heraufbeschworen, den Annette häufig als Spiegelbild ihrer Seele[95] und damit gleichsam als Aufenthaltsort ihrer Erinnerungen betrachtete; besonders deutlich wird dies in dem nachgelassenen Gedicht Auf hohem Felsen lieg ich hier[96], in dem sie den See als eine „sanfte Zauberfluth“ bezeichnet,

Aus deren tiefen klaren Grund
Gestalten meines Lebens steigen
Geliebte Augen, süßer Mund
Sich lächelnd winkend zu mir neigen[97].

So gibt sie sich auch jetzt den „Bildern seliger Vergangenheit“ hin; die leise Unruhe, die sich in der 1. Strophe durch die zweimalige sehnsüchtige Anrufung des Mondes zu erkennen gab, scheint völlig verschwunden, alle innerseelischen Spannungen scheinen gelöst zu sein.[98] Dazu hat sicherlich die Wahrnehmung des „summende[n], glimmende[n] und taumelnde[n] Leben[s] in der Lindenkrone“[99] beigetragen. Die Dichterin ist jetzt innerlich völlig ruhig; es kommt ihr vor, als „treibe“ ihr „Herz zum Hafen“, einem Ort, der Sicherheit und Geborgenheit nach den wechselvollen Erfahrungen des Lebens verspricht.


Bedrohung (Strophen 3–4)

Der Beginn der 3. Strophe führt uns wieder in den Bereich der äußeren Wirklichkeit zurück: Das Dunkel nimmt zu, die Schatten dringen ein. Dadurch wird die Dichterin wieder daran erinnert, dass sie eigentlich auf den Aufgang des Mondes wartet – eine Tatsache, die sie während des verklärten Rückblicks der Verse 14–16 beinahe vergessen zu haben schien. Das Aufsteigen der Dunkelheit bringt es ihr nun wieder zu Bewusstsein, wie nötig sie den Mond hat, um der bereits geahnten Bedrohung durch das Dunkel zu entgehen. Sie ruft deshalb den Mond nochmals mit erhöhter Intensität, ja schon beinahe angsterfüllt an:

Wo weilst du, weilst du denn, mein milder Schein! –

Das Dringende, Flehentliche dieses Anrufs lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass die Dichterin hier ihre Präteritalerzählung unterbricht und in direkte Rede verfällt, so als ob sie das im Gedicht erzählte Geschehen nochmals neu durchlebte. Ihr Inneres ist in dem Stadium, das die 3. Strophe schildert, bereits so unruhig, dass sie zu einer objektiven und distanzierten Wiedergabe der äußeren Realität nicht mehr in der Lage ist, sondern alles nur noch aus dem Blickwinkel ihrer psychischen Verfassung wahrnimmt bzw. diese auf die Außenwelt projiziert. So werden die eindringenden Schatten nicht bloß als dunkle Silhouetten in der Natur aufgefasst, sondern mit „sündigen Gedanken“ verglichen, die in die Seele eindringen und Schuldgefühle hervorrufen, was bereits deutlich auf die Anklagesituation der 4. Strophe vorausweist. Auch fühlt man sich an die Welt des Geistlichen Jahrs erinnert, die ebenso von Angstzuständen, Schuldgefühlen und Selbstanklagen gekennzeichnet ist; schon dort findet sich auch die Verbindung zwischen Schatten und Sünden:

Ja, wenn ich schaue deine Opferflamme
In eines frommen Auges reiner Glut,
Dann schimmert es, als ob es mich verdamme;
Der scharfe Strahl fährt in mein schuldig Blut.
[...]

Und unter den geschloßnen Liedern [sic] fahren
Die Schatten alter Sünden hin und her.[100]

Diese Schuldgefühle werden in Mondesaufgang wieder lebendig; auch wenn sie in der 3. Strophe nur angedeutet werden, wird doch die Naturwahrnehmung der Dichterin entscheidend von ihnen bestimmt: Das, was sie in den ersten beiden Strophen sah und hörte, ist jetzt entweder verändert oder völlig verschwunden. Das Firmament, das in Vers 4 noch als Halle und damit als solides „Bauwerk“ wahrgenommen wurde, scheint nun wie eine Woge zu schwanken[101] – etwas überspitzt könnte man sagen: Die Welt gerät aus den Fugen, es gibt keinen Halt, keine Sicherheit mehr. Auch die kleinen Tierchen, die die Dichterin in der 2. Strophe beruhigten und trösteten, sind nicht mehr da: „der Feuerfliege Funken“ ist „verzittert“, die Phaläne ist „an den Grund gesunken“. Das Einzige, was die Dichterin jetzt noch sieht, sind die Berggipfel, die sie zuvor überhaupt noch nicht wahrgenommen hatte. Von ihnen geht jedoch kein Trost, keine Besänftigung aus, im Gegenteil – sie werden als „düstrer Richterkreis“ empfunden. Die Schuldgefühle, die die Dichterin peinigen, haben sie also so weit gebracht, dass sie sich vor ein Gericht versetzt fühlt und Naturerscheinungen nur noch als Prozessbeteiligte wahrnehmen kann. Die Berge erscheinen als Richter – dadurch erhält das Wort „Häupter“, das in Vers 23 scheinbar als konventionelle Metapher für „Gipfel“ verwendet wurde, eine ganz andere Dimension: Es deutet, noch bevor überhaupt von Richtern die Rede ist, bereits den anthropomorphen Charakter der Berge an. Und es ist nicht bloß ein Richter, vor dem sich die Dichterin verantworten muss, sondern ein ganzer „Richterkreis“, was auf eine außergewöhnlich schwerwiegende Anklage schließen lässt. Vor diesem Richterkreis muss sich die Dichterin von vornherein unterlegen fühlen; und dass sie keine Milde oder Nachsicht zu erwarten hat, deuten bereits die Wörter „hart“ und „düster“ in den Versen 23–24 an. Auch die Zuschauer richten sich gegen sie: Das Rascheln der Zweige (in der 2. Strophe waren sie noch ruhig) deutet die Dichterin als „Warnungsflüstern oder Todesgruß“; es macht ihr klar, dass der Prozess einen schlimmen Ausgang nehmen, ja dass er mit ihrem Todesurteil enden wird. Darauf weist auch das unheilverkündende „Volksgemurmel“ hin, das die Dichterin vom See her zu vernehmen glaubt. Die ganze Natur, mit der sie in den ersten beiden Strophen noch im Einklang stand, kehrt sich nun gegen sie und klagt sie an; was in der Dämmerung als beruhigend und tröstend empfunden wurde, wirkt jetzt im Dunkel bedrohlich oder ist ganz verschwunden. Sowohl die optische (Strophe 3) als auch die akustische Wahrnehmung (Strophe 4) ist von dieser Veränderung betroffen; alles wird nur noch im Spiegel des Angstzustandes der Dichterin gesehen.

Über diesen Angstzustand geben die letzten vier Verse der 4. Strophe dann genauer Auskunft. Die Dichterin glaubt, sich verantworten, über ihr Leben Rechenschaft ablegen zu müssen:

Mir war, als müsse Etwas Rechnung geben.

Wieder spricht sie in der dritten Person, als ob sie das Geschehen nur als Zuschauerin miterlebte. Im Geistlichen Jahr hatte sie solche Situationen immer aus der Ich-Perspektive geschildert, als unmittelbar Betroffene, die noch während des Schreibens die dargestellten Seelenqualen durchlebte; jetzt, da sie einen Vorgang aus der Erinnerung nacherzählt, kann sie sich gewissermaßen von ihm distanzieren, weil sie weiß, dass sie ihn überwunden hat (wie wir in den Strophen 5 und 6 noch sehen werden). Dennoch sind die Verse 29–33 von einer beklemmenden Intensität: Die wehmütig-verklärte Stimmung der 2. Strophe ist völlig verschwunden, von den „Bildern seliger Vergangenheit“ und dem Herzen, „das übervoll von Glück und Leid“, ist keine Rede mehr. Stattdessen erscheint der Dichterin ihr Leben jetzt „verloren“, ihr Herz „verkümmert“; die „Bilder seliger Vergangenheit“, d.h. diejenigen Lebenserfahrungen, auf die sie zuvor noch mit Zufriedenheit zurückblicken konnte, fallen vor diesem Tribunal nicht ins Gewicht, finden hier keine Berücksichtigung. Alles, was die Dichterin in ihrem Leben getan hat, erscheint hier nichtig, ihr ganzes Leben wird in Frage gestellt. In dem bereits zitierten Gedicht Am zwölften Sonntage nach Pfingsten hatte sie eine ähnliche Situation beschrieben:

Dann wühlt in meinem Busen das Gewissen,
Schutt und Geröll stellt sich mein Wirken dar;
Das Geben und das Streben mir zerrissen
Von Grübelns Dornen, wie der Einfalt baar,
Ja überall mein Fuß
An Gitter stößt, an Kerkerschragen,
Und zitternd muß
An meine Brust ich schlagen.[102]

Es fällt nicht schwer, hinter dem Gericht, vor dem sich die Dichterin verantworten muss, eine Vorschattung des Jüngsten Gerichts zu erkennen.[103] Wie aus dem Gedicht Am Grünendonnerstage aus dem Geistlichen Jahr deutlich wird, hatte die Dichterin in ihren Angsttraumvisionen oft das Gefühl, dieses Gericht sei bereits angebrochen:

Es ist mir oft zu Sinnen,
Als wolle schon beginnen
Dein schweres Strafgericht[104].

Vor diesem Gericht hat sie, die zeitlebens mit dem Glauben rang und ihre Zweifel am Gott der Kirche vergeblich zu bekämpfen versuchte, keinen Bestand; ihr Herz steht dort „allein mit seiner Schuld und seiner Pein“, ohne Beistand, ihren Schuldgefühlen ausgeliefert. Über die Ursachen dieser Schuldgefühle wird nichts Eindeutiges gesagt; ihr Leben ist „verloren“, gewiss, doch was sie eigentlich getan hat, wird nicht recht deutlich. Auch im Geistlichen Jahr scheinen die Schuldgefühle und Selbstanklagen oft eher irrationale Ursachen zu haben. In dem Gedicht Am drey und zwanzigsten Sonntage nach Pfingsten fragt sie sich selbst (nachdem sie zuvor ihr Schuldgefühl mit einem Skorpion verglichen hat, der ihre Wunden „nagend aufregt“):

Hab ich so viel begangen
Denn in so kurzer Zeit,
Was wohl zur Schmach gelangen
Möcht einer Ewigkeit?[105]

Anscheinend hat sie selbst Zweifel bezüglich der Berechtigung ihrer Schuldgefühle; dennoch kann sie sich nicht von ihnen befreien – die zitierte Strophe schließt mit den Worten:

Ich bin zerstört,
Ich bin vernichtet,
Und langsam abgekehrt
Ins Nichts mein Blick sich richtet.[106]

Annette von Droste leidet offenbar an einer Überempfindlichkeit der Seele, die sie auch in geringfügigsten Dingen eine Schuld sehen lässt. Besonders freilich quälen sie immer wieder ihre religiösen Zweifel, ihr Mangel an Glaube, den sie in dem Gedicht Am Pfingstmontage mit kaum zu überbietender Deutlichkeit zum Ausdruck bringt:

Ist es der Glaube nur, dem du verheißen,
Dann bin ich todt.
O Glaube! wie lebendgen Blutes Kreisen,
Er thut mir Noth;
Ich hab ihn nicht.[107]

Die Konsequenz, die die Dichterin daraus zieht, ist allerdings nicht die völlige Absage an die Religion – sie wird nicht zur Atheistin, sondern fürchtet sich gerade wegen ihres Mangels an Glauben vor dem göttlichen Gericht:

Ein hartes schweres Wort hast du gesprochen,
daß „wer nicht glaubt,
Gerichtet ist“ – so bin ich ganz gebrochen.[108]

Ihre einzige Hoffnung im Geistlichen Jahr ist, dass Gott ihre Liebe – als Ersatz für den fehlenden Glauben – annehmen wird. In Mondesaufgang werden all diese inneren Kämpfe nur angedeutet – es ist ganz allgemein von der Schuld und Pein der Dichterin die Rede; doch gerade diese Abstraktheit der Darstellung (die nur durch Bezüge zu anderen Werken und zur Biografie etwas aufgehellt werden kann) macht die Irrationalität ihrer Schuldgefühle deutlich, aus denen sie, allein vor dem göttlichen Gericht stehend, keinen Ausweg sieht.


Erfüllung (Strophen 5–6)

Zur Verurteilung kommt es indessen nicht. In der 5. Strophe geht endlich der langersehnte Mond auf, wodurch sich die Szenerie völlig verändert, sowohl in der Außenwelt als auch in der Psyche der Dichterin.[109] Zunächst steht die äußere Realität im Vordergrund: Der Mond wird sichtbar, und zwar zuerst als Widerschein auf dem See, also indirekt, wodurch sein Licht, das ohnedies nur eine Reflexion der Sonne ist, nochmals gemildert, noch sanfter wird; die Dichterin nennt ihn jetzt „frommes Licht“ („fromm“ ist hier sicherlich in seiner alten Bedeutung als „mild“ zu verstehen). Der Schein des Mondes vertreibt das Dunkel und besänftigt die zuvor noch so bedrohliche Umgebung: Die Gipfel der Alpen, die vorher wie gerunzelte Stirnen anmuteten, werden jetzt glatt, sodass sich die früheren Richter in „sanfte Greise“ verwandeln; die Bewegung der Wellen, die der Dichterin eben noch wie ein unruhiges, erregtes Zucken erschien, wird jetzt als „lächelnd Winken“ und damit als freundlich und einladend empfunden. Die Zweige, die in der 4. Strophe bedrohlich zischelten, sind jetzt still, und die Dichterin sieht an ihnen „Tropfen blinken“ – zweifellos die Regentropfen, deren Rieseln sie in Vers 7 wahrnahm und in denen sich jetzt das Licht des Mondes spiegelt. Diesen Widerschein wiederum deutet die Dichterin als Schein der Heimatlampe in einem Kämmerlein. Objektiv gesehen hat sich in der Außenwelt nichts verändert – die Berge, der See, die Zweige sind nach wie vor vorhanden; im sanften Lichtschein des Mondes nehmen sie jedoch für Annette einen ganz neuen Charakter an. Die Art und Weise, wie sie dargestellt werden, ist dieselbe wie in den beiden mittleren Strophen: Die Dichterin betrachtet sie nicht objektiv-sachlich, sondern subjektiv, im Spiegel ihrer Seele, deren Stimmung freilich jetzt eine völlig andere ist als in den Strophen 3 und 4. Diese Veränderung in der Seele der Dichterin hat der Mond bewirkt, dem somit die Funktion eines Befreiers, eines Erlösers zukommt; er ist der Beistand, nach dem sie in der Gerichtsszene der Strophe 4 noch vergeblich Ausschau hielt; ihm ist es gelungen, die Richter milde zu stimmen und das Gezischel des Volkes zum Schweigen zu bringen. Die Dichterin hat jetzt beinahe wieder zu der inneren Ruhe und Zufriedenheit der 2. Strophe zurückgefunden; kam es ihr dort so vor, als treibe ihr Herz zum Hafen, so meint sie nun, viele Kämmerlein mit Heimatlampen zu sehen – ebenfalls ein Bild der Geborgenheit, der Ruhe und Sicherheit, ein Bild, das mit ähnlicher Bedeutung auch in anderen Gedichten Annettes vorkommt, so etwa in Der Knabe im Moor, wo die Titelgestalt nach ihrer Durchquerung des von Spukgeistern bevölkerten Moores als erstes Anzeichen von Sicherheit und menschlicher Nähe die Heimatlampe wahrnimmt:

Da mählig gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimathlich,
Der Knabe steht an der Scheide.[110]

In dem Gedicht Im Moose ist es die Dichterin selbst, die nach einer beklemmenden Vision ihres eigenen Sterbens die „Schlummerlampe“ als Trost empfindet:

Und flimmern sah ich, durch der Linde Raum,
Ein mattes Licht, das im Gezweig der Baum
Gleich einem mächt’gen Glühwurm schien zu tragen.
Es sah so dämmernd wie ein Traumgesicht,
Doch wuste ich, es war der Heimath Licht,
In meiner eignen Kammer angeschlagen.[111]

In allen diesen Fällen stellt die Heimatlampe ein erlösendes Gegenbild zu den Angsterfahrungen der Dichterin dar; ein Unterschied besteht jedoch insofern, als die Lampe in den Gedichten Der Knabe im Moor und Im Moose durchaus als realer Gegenstand vorhanden ist, während sie in Mondesaufgang nur in der Vorstellung des Lyrischen Ichs existiert, als subjektive Umdeutung einer Lichterscheinung in der äußeren Wirklichkeit. Dass sie diese Lichterscheinung gerade als Heimatlampe deutet, ist freilich äußerst bemerkenswert und lässt Rückschlüsse auf ihre psychische Situation zur Zeit der Entstehung des Gedichtes zu. Anders als in früheren Gedichten wie etwa Der Hünenstein oder Die Mergelgrube findet jetzt keine ironische Auflösung naturmagischer Phantasien mehr statt; vielmehr sind es „vertraute Bilder des Wohnens und der Menschlichkeit“, die „die verzerrten Bilder der Angst verdrängen.“[112] Der Grund hierfür ist in der Natur der Gerichtsvision zu sehen: Es handelte sich nicht um eine bloße Phantasie, „über die man mit einer ironischen Wendung hinweggehen kann“,[113] sondern um eine existentielle Bedrohung, um die Vorstellung einer ausweglosen Anklagesituation, die unausweichlich mit einem Todesurteil geendet hätte, wenn nicht der Mond rechtzeitig als Beistand und Erlöser aufgetreten wäre. Sein milder Schein lässt die Szenerie freilich nur in gedämpftem Licht erscheinen, nicht in gleißender Helligkeit; die Dichterin verfällt deshalb nicht in plötzliche Euphorie, sie stürzt sich nicht in die Fülle des Lebens – das Leben ist für sie weitgehend vorüber, wie wir an der Lebensabendmetaphorik der 2. Strophe sahen, und sie spürt auch nicht mehr das Verlangen, sich ihm hinzugeben. Stattdessen bekennt sie sich hier zu einem zurückgenommenen Leben in Sicherheit und Geborgenheit, im „Hafen“, um es mit den Worten der 2. Strophe zu sagen – eine Haltung, die durchaus resignative Züge trägt, jedoch von Bitterkeit und Vorwürfen völlig frei ist.

Warum der Mond eine solche besänftigende und erlösende Wirkung auf die Dichterin hat, erfahren wir in der letzten Strophe des Gedichtes. Diese Strophe ist wieder völlig der Innenwelt des Lyrischen Ichs vorbehalten: In der Natur finden keine Veränderungen mehr statt, der Mond ist erschienen und hat die Welt in sein mildes Licht getaucht, sodass die Dichterin jetzt in Ruhe über seine Bedeutung für sie nachdenken kann. Sie tut dies in Form einer direkten Anrede des Mondes, einer Anrede, die sicherlich nicht nur ihre Gefühle unmittelbar nach dem in dem Gedicht erzählten Ereignis widerspiegelt, sondern auch für ihre psychische Verfassung zum Zeitpunkt der Niederschrift repräsentativ sein dürfte – immerhin zitiert sie die Ansprache in direkter Rede und im Präsens. Der Mond erscheint ihr in ihrer jetzigen Lebensphase „wie ein später Freund“ – diese Aussage zeigt deutlich, wie einsam die Dichterin gegen Ende ihres Lebens war. Schon Schücking war in gewisser Weise ein „später Freund“ für sie gewesen: Als Annette ihn kennenlernte, war sie bereits über dreißig Jahre alt, doch die Zeit mit ihm sollte sowohl menschlich als auch künstlerisch die glücklichste ihres Lebens werden. Jetzt, da die Beziehung zu Schücking erkaltet ist, erwartet die Dichterin von Menschen keine Freundschaft mehr; der Mond muss ihr, der „Verarmten“, menschliche Nähe und menschlichen Trost ersetzen. Mit seiner „Jugend“ – gedacht ist hier offenbar an eine Art von altersloser, ewiger Jugend – frischt er wie einst Schücking die Kräfte der Dichterin wieder auf: Er bescheint ihre „sterbenden Erinnerungen“ und schlingt „des Lebens zarten Widerschein“ um sie, d.h. er macht die positiven Erinnerungen, die am Ende der 2. Strophe in ihr aufgestiegen waren, jedoch durch die Anklagesituation und die Schuldgefühle der Strophen 3 und 4 verdrängt zu werden drohten, wieder sichtbar und vielleicht auch poetisch fruchtbar. An dieser Stelle zeigt sich erneut eine Gleichsetzung von See und Seele: So wie der Schein des Mondes in Strophe 5 auf den See fiel, fällt er jetzt auf die Seele der Dichterin, auf ihre Erinnerungen. Allerdings taucht er sie nicht in ein grelles Licht, wie es die Sonne tun würde, auf die die Dichterin in der zweiten Hälfte der Strophe zu sprechen kommt. Anders als der Mond ist die Sonne ein Licht, das

[...] entzückt und blendet,
In Feuerströmen lebt, in Blute endet.

Mit den „Feuerströmen“ sind auf der Ebene der äußeren Realität zweifellos die Sonnenstrahlen, mit dem Blut das Abendrot gemeint; die auffallende Wortwahl deutet jedoch auf einen wesentlich tieferen symbolischen Sinn hin: Offenbar steht die Sonne hier für ein Leben, das mit größtmöglicher Hingabe und Intensität gelebt wird, aber gewaltsam endet. In dem Gedicht Am Thurme hatte Annette von Droste eine solche Intensität noch gepriesen: Damals wollte sie den Sturm

[...] kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen;

sie wollte sich in die „tobende Meute“ der Wellen stürzen

Und jagen durch den korallenen Wald
Das Wallroß, die lustige Beute;

sie wollte

[...] im kämpfenden Schiff
Das Steuerruder ergreifen,
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöve streifen.[114]

Von solchen Sehnsüchten ist im Mondesaufgang keine Rede mehr; die Dichterin gibt sich mit einem zurückgenommenen, nach innen gekehrten Leben zufrieden. Das grelle Licht der Sonne, die „blutsmäßige und verzückte Lebensintensität“,[115] könnte sie jetzt im Alter nicht mehr ertragen; es würde sie verzehren und vernichten.[116] Ihre Lichtquelle ist nun der Mond, der den Schein der Sonne lediglich reflektiert und deshalb ein „fremdes“, d.h. ein geborgtes, einem anderen gehörendes Licht ist, zugleich aber auch ein „mildes“, wohltuendes, erträgliches Licht. Nicht die Sonne wird also in diesem Gedicht gepriesen, sondern der Widerschein der Sonne; nicht das Leben, sondern der Widerschein des Lebens. Was aber ist der Widerschein des Lebens? Der vorletzte Vers gibt uns die Antwort (und lässt den im Gedicht dargestellten Vorgang nochmals eine völlig neue Dimension annehmen): Der Mond ist für die Dichterin das, was „dem kranken Sänger“, der am Leben nicht mehr teilnehmen kann und zurückgezogen lebt, „sein Gedicht“ ist – Lebensersatz und Lebensreflexion. Hinter dem Bild des Mondes verbirgt sich also die Kunst, die Dichtung, die der Autorin im Alter noch allein Trost bietet und die sie auch von ihren Schuldgefühlen und der Vorstellung des Angeklagtseins befreit hat. Offenbar hatte die Dichterin zu dieser Zeit, als sie das Ende ihres Lebens herannahen fühlte und nicht mehr in der Lage war, intensiv am Leben teilzunehmen, verstärkt mit Schuldgefühlen und Angsttraumvisionen zu kämpfen; sie glaubte, vor dem göttlichen Gericht zu stehen, und vor diesem Gericht erschien ihr ihr ganzes Leben vergeudet und verloren. Nur der Gedanke an ihr dichterisches Werk, an ihre dichterische Lebensleistung konnte ihr Trost bringen und vermochte anscheinend auch die „Richter“ günstiger zu stimmen, sodass es nicht zu einer Verurteilung kam. Der Dichtung kommt für Annette von Droste somit eine dreifache Funktion zu: Erstens hilft sie ihr, die Schuldgefühle bezüglich ihres Lebensverlaufs zu überwinden; zweitens bietet sie ihr im Alter, da sie sich als „kranker Sänger“ fühlt, einen Ersatz für das Leben, an dem sie nicht mehr teilnehmen, das sie jedoch poetisch fruchtbar machen kann; drittens ist sie auch ihr einziger Freund, nachdem Schücking sie verlassen und eine Lücke in ihr hinterlassen hat, die durch keinen anderen Menschen ausgefüllt werden kann. Die letztere Funktion der Dichtung stellt Annette von Droste besonders deutlich in dem Gedicht Lebt wohl heraus, das sie Levin und Louise Schücking anlässlich ihrer Abreise von der Meersburg im Mai 1844 schenkte:[117]

Lebt wohl, es kann nicht anders seyn!
Spannt flatternd eure Segel aus,
Laßt mich in meinem Schloß allein,
Im öden geisterhaften Haus.

[...]

Verlassen, aber einsam nicht,
Erschüttert, aber nicht zerdrückt,
So lange noch das heil’ge Licht
Auf mich mit Liebesaugen blickt[118].

Mit dem „heil’gen Licht“, von dem die Dichterin hier spricht, dürfte wiederum das Mondlicht bzw. die Dichtung gemeint sein,[119] der somit in diesem Gedicht eine ähnliche Bedeutung zukommt wie in Mondesaufgang: Sie ist für die von Menschen verlassene Dichterin der einzige Freund, der einzige Trost im Alter. In Lebt wohl bestreitet Annette von Droste zwar, „einsam“ zu sein, solange das „heil’ge Licht“ noch auf sie blicke, und sie will nur das Attribut „verlassen“ für sich gelten lassen, doch scheint es sich dabei eher um ein heroisches Aufbäumen angesichts des Alleinseins zu handeln, vielleicht auch um den Versuch, eventuelle Schuldgefühle der scheidenden Schückings von vornherein gegenstandslos erscheinen zu lassen. Jedenfalls geht man in der Interpretation sicherlich nicht zu weit, wenn man einen Menschen, der von allen engeren und tieferen Beziehungen zu seinen Mitmenschen ausgeschlossen ist und nur noch in seiner Dichtung Trost findet, als einsam bezeichnet. Gerade in Mondesaufgang entwirft die Dichterin ja ein deutlich resignativeres, illusionsloseres Bild von sich selbst, wenn sie von einem „Verarmten“, einem „kranken Sänger“ oder einem „verkümmerten Herzen“ spricht. Es ist diese schonungslose Offenheit, diese bei aller scheinbaren Distanziertheit doch sehr persönliche Darstellungsweise, die das Gedicht Mondesaufgang zu einem bewegenden Dokument der psychischen Situation Annette von Droste-Hülshoffs wenige Jahre vor ihrem Tod und damit zugleich zu einem ihrer großen lyrischen Selbstportraits werden lässt.


Literatur

Werk- und Briefausgaben

Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Werke / Briefwechsel. Hrsg von Winfried Woesler. 14 Bände. Tübingen (Niemeyer) 1978ff. [zitiert als: HKA].

Droste-Hülshoff, Annette von: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Bodo Plachta und Winfried Woesler. Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker Verlag) 1994 [zitiert als: SW].

Briefe von Annette von Droste-Hülshoff und Levin Schücking. Hrsg. von Reinhold Conrad Muschler. Dritte stark vermehrte Auflage. Leipzig (Grunow) 1928 [zitiert als: Droste/Schücking].

Briefe von Levin Schücking und Louise von Gall. Hrsg. von Reinhold Conrad Muschler. Mit einer biographischen Einleitung von Levin Ludwig Schücking. Leipzig (Grunow) 1928 [zitiert als: Schücking/Gall].

Sekundärliteratur

Berglar, Peter: Annette von Droste-Hülshoff in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. rowohlts monographien 130. Reinbek (Rowohlt) 1967.

Gödden, Walter: Annette von Droste-Hülshoff: Leben und Werk. Eine Dichterchronik. Arbeiten zur Editionswissenschaft 2. Bern u.a. (Peter Lang) 1994.

Gössmann, Wilhelm: „Der Bodensee in den Briefen und Gedichten der Droste: Poetisierung und Realität“. In: Droste-Jahrbuch 1 (1986/87), S. 73–93.

Heselhaus, Clemens: „Annette von Droste-Hülshoff: Mondesaufgang“. In: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Hrsg. von Benno von Wiese. Düsseldorf (Bagel) 1956. Bd. 2, S. 174–181.

Hüffer, Hermann: Annette von Droste-Hülshoff und ihre Werke. Vornehmlich nach dem literarischen Nachlaß und ungedruckten Briefen der Dichterin. Dritte Ausgabe, bearbeitet von Hermann Cardauns. Gotha (Perthes) 1911.

Kortländer, Bernd: „‚... nehmen Sie, was Ihnen ansteht.‘ Zum Problem ‚Edition und Interpretation‘ am Beispiel von Gedichten der Annette von Droste-Hülshoff“. In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Hrsg. von Georg Stötzel. 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur, Neuere Deutsche Literatur. Berlin / New York (de Gruyter) 1985. S. 355–368.

Kraft, Herbert: Annette von Droste-Hülshoff. rowohlts monographien 517. Reinbek (Rowohlt) 1994.

Mare, Margaret: Annette von Droste-Hülshoff. With translations by Ursula Prideaux. London (Methuen) 1965.

Salmen, Monika: Das Autorbewußtsein Annette von Droste-Hülshoffs. Eine Voraussetzung für Verständnis und Vermittlung ihres literarischen Werks. Europäische Hochschulschriften I/847. Frankfurt am Main u.a. (Peter Lang) 1985.

Schücking, Levin: Lebenserinnerungen. 2 Bände. Breslau (Schottlaender) 1886.

Staiger, Emil: Annette von Droste-Hülshoff. Frauenfeld (Huber) ²1962.

Woesler, Winfried: „Droste-Handschriften in Cologny“. In: Kleine Beiträge zur Droste-Foschung 2 (1972/73), S. 93–99.

Woesler, Winfried: Modellfall der Rezeptionsforschung: Droste-Rezeption im 19. Jahrhundert. Dokumentation, Analysen, Bibliographie. Erstellt in Zusammenarbeit mit Aloys Haverbusch und Lothar Jordan. 2 in 3 Bänden. Frankfurt am Main u.a. (Peter Lang) 1980.

Woesler, Winfried: „‚Lebt wohl‘ – Die Wiederbegegnung der Droste mit Schücking auf der Meersburg im Mai 1844“. In: Droste-Jahrbuch 1 (1986/87), S. 53–72.


Anmerkungen

[1] Vgl. Salmen, S. 283.

[2] Vgl. dazu Gössmann, S. 73 u. 81f.

[3] Vgl. SW, Bd. 1, S. 815.

[4] Vgl. Berglar, S. 69; Kraft, S. 76; Gödden, S. 190f.

[5] Vgl. Kraft, S. 87; Gödden, S. 247.

[6] Vgl. Kraft, S. 87f.

[7] Vgl. Gödden, S. 344 u. 374.

[8] Vgl. Berglar, S. 102; Kraft, S. 88; Gödden, S. 346 u. 361.

[9] Vgl. Berglar, S. 88; Woesler (1986/87), S. 57.

[10] Vgl. Berglar, S. 88.

[11] Vgl. Berglar, S. 89 u. 118; Woesler (1986/87), S. 57.

[12] Vgl. Berglar, S. 104; Gödden, S. 347 u. 351.

[13] Vgl. Schücking, Bd. 1, S. 182f.; Woesler (1980), Bd. I/1, S. 286; Berglar, S. 104; Gödden, S. 350f.

[14] Vgl. Berglar, S. 114.

[15] Vgl. Berglar, S. 102. Aufschlussreich für Schückings Verhältnis zu Annette ist besonders sein Brief an Louise von Gall vom 11. Dezember 1842 (Schücking/Gall, S. 73–86, hier 85f.).

[16] Berglar, S. 114.

[17] Vgl. Gödden, S. 349, 351f., 355, 358 u. 361; Berglar, S. 104–118.

[18] Vgl. ihren Brief an Schücking vom 5. Mai 1842 (HKA, Bd. IX/1, S. 287–300, hier 287).

[19] Berglar, S. 122.

[20] Berglar, S. 119.

[21] Vgl. ihren Brief vom 5. Mai 1842 (HKA, Bd. IX/1, S. 287–300, hier 289 u. 291).

[22] Vgl. Gödden, S. 365 u. 374.

[23] Vgl. Berglar, S. 55; Gödden, S. 145.

[24] Brief an Sibylle Mertens-Schaaffhausen vom 9. Oktober 1842 (HKA, Bd. IX/1, S. 366–371, hier 367).

[25] Berglar, S. 124.

[26] Vgl. die Briefe vom 12. September und 10. Oktober 1842 (HKA, Bd. IX/1, S. 349–362 u. 371–378, bes. 361f. u. 371).

[27] Vgl. ihren Brief an Schücking vom 12. September 1842 (HKA, Bd. IX/1, S. 349–362, hier 354).

[28] Vgl. ihren Brief an Schücking vom 16. Februar 1843 (HKA, Bd. X/1, S. 6–15, hier 6f.) sowie Gödden, S. 394–396.

[29] Vgl. ihren Brief an Schücking vom 26. April 1843 (HKA, Bd. X/1, S. 33–38, hier 33f.) sowie Gödden, S. 399.

[30] Vgl. ihren Brief an Elise Rüdiger vom 21. März 1843 (HKA, Bd. X/1, S. 32f.) sowie Gödden, S. 405.

[31] Vgl. Gödden, S. 379; Berglar, S. 119f.

[32] Vgl. Gödden, S. 386f.

[33] Vgl. ihre Briefe vom 16. Februar und 11. Mai 1843 (HKA, Bd. X/1, S. 6–15 u. 43–50, hier 14 u. 44–46).

[34] Berglar, S. 124.

[35] Vgl. Droste/Schücking, S. 177–182.

[36] Berglar, S. 124; vgl. auch Woesler (1986/87), S. 54f.

[37] Vgl. Berglar, S. 128; Gödden, S. 409–414.

[38] Berglar, S. 129.

[39] Vgl. Gödden, S. 415f.; Kraft, S. 106; Berglar, S. 129.

[40] Vgl. ihren Brief an Schücking vom 15. Dezember 1843 (HKA, Bd. X/1, S. 114–123, hier 121).

[41] Vgl. Gödden, S. 416f.

[42] Vgl. Berglar, S. 129f.

[43] Vgl. Schückings Brief an Annette vom 2. November 1843 (Droste/Schücking, S. 195–198, hier 195f.).

[44] Vgl. ihren Brief an Schücking vom 30. Juni 1843 (HKA, Bd. X/1, S. 55–63, hier 56).

[45] Vgl. Gödden, S. 417; Kraft, S. 106; Berglar, S. 121.

[46] Vgl. ihren Brief an Schücking vom 17. Januar 1844 (HKA, Bd. X/1, S. 143–148).

[47] Vgl. Gödden, S. 427–431.

[48] Vgl. Droste/Schücking, S. 199ff.

[49] Vgl. HKA, Bd. X/1, S. 176–185, hier 178f. u. 181–185.

[50] Zu diesem Besuch vgl. insgesamt Woesler (1986/87).

[51] Vgl. Gödden, S. 438f.; Kraft, S. 115; Woesler (1986/87), S. 55.

[52] Vgl. Schücking, Bd. 2, S. 10.

[53] Vgl. Elise Rüdigers Brief an Hermann Hüffer vom 15. August 1885 (abgedruckt in Woesler (1980), Bd. I/2, S. 971f.).

[54] Ebd. Vgl. auch Hüffer, S. 285.

[55] Kraft, S. 116.

[56] Vgl. ihren Brief an Levin und Louise Schücking vom 20. Juni 1844 (HKA, Bd. X/1, S. 189–195, hier 192f.).

[57] Vgl. Kraft, S. 117.

[58] Vgl. HKA, Bd. X/1, S. 189–195, hier 190.

[59] Berglar, S. 134. Unter den Kritikern, die den Band wohlwollend rezensierten, waren auch Freiligrath, Stifter, Scherr und Zedlitz (ebd.).

[60] Vgl. Gödden, S. 448.

[61] Berglar, S. 139.

[62] Vgl. Gödden, S. 437; Kortländer, S. 355.

[63] Vgl. Gödden, S. 423.

[64] Vgl. Gödden, S. 435.

[65] Vgl. HKA, Bd. X/1, S. 165–173, hier 166.

[66] Vgl. HKA, Bd. X/1, S. 174–176, hier 175.

[67] Vgl. SW, Bd. 1, S. 802f.; Woesler (1972/73), S. 94; Kortländer, S. 355.

[68] Vgl. ihren Begleitbrief vom 17. April 1844 (HKA, Bd. X/1, S. 186–189, hier 186f.). Die Alternativvarianten sind im Einzelnen angeführt bei Woesler (1972/73), S. 96–98.

[69] Vgl. SW, Bd. 1, S. 815; Woesler (1972/73), S. 97; Kortländer, S. 365–367.

[70] Vgl. den Brief vom 17. April 1844 (HKA, Bd. X/1, S. 186–189, hier 187). Zum Problem der Anordnung vgl. auch Woesler (1972/73), S. 95f., und Kortländer, S. 356–363.

[71] Vgl. SW, Bd. 1, S. 803; Kortländer, S. 355; Gödden, S. 461. Der Grund für das Scheitern des Projekts lag offenbar darin, dass Emanuel Geibel als Mitherausgeber fungierte – gegen ihn hatten, wie Schücking am 26. April 1844 an Annette schrieb, die meisten zeitgenössischen Dichter „ein großes Vorurtheil“, sodass nur wenig Beiträge für den Musenalmanach eingesandt wurden; Nikolaus Lenau nannte Geibel in einem Gespräch mit Schücking die „letzte Eule auf den Trümmern von Thron und Altar“ (Droste/Schücking, S. 270).

[72] Vgl. Schückings Brief an Annette vom 14. Februar 1845 (Droste/Schücking, S. 295–297, hier 297).

[73] Vgl. HKA, Bd. X/1, S. 261–267, hier 264.

[74] Vgl. Gödden, S. 478. Annette erhielt den Band erst im November 1845. Ihr Urteil fiel sehr kritisch aus: „allerliebst anzusehn – reizende Stahlstiche, und ein Prachteinband, aber der Inhalt kümmerlich. [...] Das Taschenbuch muß noch bedeutend an Kräften zunehmen, so ists nicht lebensfähig“ (Brief an Elise Rüdiger vom 14. November 1845; HKA, Bd. X/1, S. 320–328, hier 324f.).

[75] Zitiert nach: HKA, Bd. II/1, S. 54f.

[76] Zur Gleichsetzung des Sees mit dem Bodensee vgl. die Einleitung und Gössmann, S. 82.

[77] Vgl. Heselhaus, S. 175.

[78] So Heselhaus, S. 176.

[79] Heselhaus, S. 176.

[80] Heselhaus, S. 176.

[81] Mare, S. 136.

[82] So Kortländer, S. 367. Wie bereits im Kapitel zur Entstehungsgeschichte dargelegt, enthielt die Reinschrift Annette von Droste-Hülshoffs an dieser Stelle die Alternarivvariante „mit leisem Stöhnen“. Schückings Entscheidung für „Dehnen“ ist insofern nachvollziehbar, als dieses Wort sich besser in den Kontext der insgesamt auf optischen Eindrücken aufgebauten und Vorgänge des Zerfließens und Zerschmelzens beschreibenden ersten Strophe einfügt. Die Variante „Stöhnen“, die nach Kortländer (S. 365) für den damaligen Sprachgebrauch die „schwierigere Lesart“ darstellte, würde demgegenüber ein akustisches Element und zudem einen Ton von Angst und Gequältsein in die Strophe einführen, der bereits auf den Mittelteil des Gedichtes vorausweisen und den Leser gegenüber der sanften Wehmut der Naturbilder in den ersten beiden Strophen skeptisch machen würde. Das Wort „Stöhnen“ – gewöhnlich nur in Bezug auf Menschen gebraucht – kommt bei Annette von Droste übrigens häufiger im Zusammenhang mit Naturerscheinungen vor, so etwa in den Gedichten Die Verbannten („Ich hörte nur der Wipfel Stöhnen“; HKA, Bd. I/1, S. 13, V. 86), Am Bodensee („Müde, müde die Luft am Strande stöhnt“; ebd., S. 83, V. 3) oder Die Vergeltung („Die Bohlen weichen mit Gestöhn“; ebd., S. 280, V. 20). Eine Parallele für die Verwendung des Wortes „Dehnen“ in einem ähnlichen Kontext wie in Mondesaufgang bietet das Gedicht Der Fundator, wo es in Vers 53f. heißt: „Wie der Teich sich dehnet / Um’s Eiland“ (ebd., S. 242). Zur Problematik der Entscheidung zwischen „Dehnen“ und „Stöhnen“ im Mondesaufgang vgl. insgesamt Kortländer, S. 365–367.

[83] Gössmann, S. 88.

[84] Zu bedenken ist immerhin, dass Gössmanns Paraphrase „zu Tränen zerflossene Perlen“ den Text nicht exakt wiedergibt – tatsächlich wird der See mit zerflossenen Perlen oder Wolkentränen verglichen.

[85] Mares Behauptung, „rieselte“ sei das einzige Wort in der 1. Strophe, das einen akustischen Eindruck beschreibe (S. 136), ist in dieser Bestimmtheit sicherlich nicht haltbar, da das Wort „rieseln“ die Vorstellung von einem Geräusch ursprünglich gar nicht enthielt und von Annette von Droste möglicherweise noch in seinem älteren Sinn verwendet wird (vgl. dazu Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch, Tübingen (Niemeyer) 91992, S. 696).

[86] HKA, Bd. IV/1, S. 68, V. 37–39.

[87] HKA, Bd. I/1, S. 78, V. 1.

[88] Phalänen kommen bei Annette von Droste-Hülshoff auch noch in den Gedichten Die Jagd (HKA, Bd. I/1, S. 36, V. 32), Der Haidemann (ebd., S. 62, V. 9) und Die Schlacht im Loener Bruch (ebd., Bd. III/1, S. 77, V. 159) vor.

[89] In älteren Ausgaben meist unter dem von Schücking stammenden Titel Die ächzende Kreatur abgedruckt (vgl. dazu HKA, Bd. IV/2, S. 667).

[90] Vgl. Mare, S. 136.

[91] Gemeint sind offenbar die Blüten des Lindenbaumes, was eine Datierung des in dem Gedicht erzählten Erlebnisses auf die Monate Juni oder Juli ermöglicht.

[92] Vgl. Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 225.

[93] So Mare, S. 136.

[94] HKA, Bd. IV/1, S. 164, V. 33f.

[95] Vgl. Gössmann, S. 83.

[96] In älteren Ausgaben auch unter den Titeln An ***, An Frau Prof. Arndts, An Marie Görres oder An Frau Guido Görres abgedruckt.

[97] HKA, Bd. II/1, S. 218, V. 12–16.

[98] Vgl. Salmen, S. 280.

[99] Heselhaus, S. 177.

[100] Am zwölften Sonntage nach Pfingsten (HKA, Bd. IV/1, S. 107, V. 1–4 u. 9f.).

[101] Eine gewisse Instabilität wurde freilich bereits in Vers 4 durch das Wort „schwamm“ angedeutet.

[102] HKA, Bd. IV/1, S. 107f., V. 25–32.

[103] So auch Mare, S. 137, und Staiger, S. 101.

[104] HKA, Bd. IV/1, S. 52, V. 31–33.

[105] HKA, Bd. IV/1, S. 132, V. 9–12.

[106] HKA, Bd. IV/1, S. 132, V. 13–16.

[107] HKA, Bd. IV/1, S. 79, V. 1–5.

[108] HKA, Bd. IV/1, S. 79, V. 21–23.

[109] Auf der formalen Ebene wird dieser Wechsel, wie Mare (S. 137) richtig bemerkt, durch das betonte „Da“ in Vers 33, das die Regelmäßigkeit des Metrums durchbricht, unterstrichen.

[110] HKA, Bd. I/1, S. 68, V. 41–44.

[111] HKA, Bd. I/1, S. 81, V. 7–12. Das Wort „Schlummerlampe“ erscheint in Vers 47.

[112] Heselhaus, S. 178.

[113] Heselhaus, S. 179.

[114] HKA, Bd. I/1, S. 78, V. 6–8, 14–16, 21–24.

[115] Heselhaus, S. 179.

[116] Vgl. Mare, S. 138.

[117] Vgl. Woesler (1986/87), S. 56.

[118] HKA, Bd. I/1, S. 325, V. 1–4 u. 13–16.

[119] Zu dieser Deutung vgl. Mare, S. 138.


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