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Buchbesprechung
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Carsten
Peter Thiede:
Wer bist du, Jesus? Schlaglichter auf den Mann, der in kein Schema paßt Basel/Gießen (Brunnen) 2000 136 Seiten. ISBN 3-7655-1216-8. EUR 11,95 |
Das Neue Testament wurde vor mehr als 1900 Jahren geschrieben. Das scheint eine Binsenweisheit zu sein, wird bei der alltäglichen Bibellektüre und -betrachtung aber oft vergessen. Entweder werden die neutestamentlichen Texte so behandelt, als seien sie primär an ein westeuropäisches Publikum des späten 20. bzw. frühen 21. Jahrhunderts gerichtet, oder sie werden als ahistorische bzw. überhistorische Größen betrachtet, die für Menschen aller Zeiten und Kulturen gleichermaßen problemlos verständlich sind. Tatsächlich jedoch sind sie zunächst einmal mit Blick auf ein Publikum des 1. Jahrhunderts geschrieben worden, das in ganz bestimmten sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen lebte, die von den heutigen sehr verschieden waren. Eine Erhellung dieser zeitgeschichtlichen Hintergründe kann unser Verständnis der Texte oft erleichtern und Einsichten zutage fördern, die bei rein textimmanenter Lektüre nicht zu gewinnen wären. Carsten Peter Thiede, Literaturwissenschaftler, Historiker und Papyrologe, hat mit Wer bist du, Jesus? wieder einmal ein Buch vorgelegt, das solche Einsichten vermittelt. Sein Thema ist die Frage, wie die Zeitgenossen Jesu Christi über ihn dachten. Der Autor greift in fünf Kapiteln fünf Personen heraus, die nach der Identität Jesu fragten: Jesus selbst (Wer sagen die Menschen, dass ich, der Sohn des Menschen, sei? [Mt 16,13]), Johannes der Täufer (Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten? [Lk 7,19]), Kajaphas (Bist du der Christus, der Sohn des Gesegneten? [Mk 14,61]), Pilatus (Bist du der König der Juden? [Joh 18,33]) und Saulus (Wer bist du, Herr? [Apg 9,5]). Die Fragen dieser fünf Personen (und die dazugehörigen Antworten) werden in ihren zeithistorischen Kontext eingeordnet, es werden Hintergründe aufgedeckt (Thiede zitiert wiederholt aus den Schriften antiker Historiker sowie aus der Qumran-Literatur), Zusammenhänge hergestellt und neue Deutungsmöglichkeiten eröffnet. Hier einige Beispiele für ungewohnte Perspektiven auf altbekannte Texte:
- Jesus stellte die Frage nach der öffentlichen Meinung über seine Person in der Nähe von Caesarea Philippi, wo sich ein Tempel zu Ehren des Kaisers Augustus befand. Augustus ließ sich als Filius Divi (Sohn des Göttlichen) bezeichnen, was im Griechischen als Hyios Theou (Sohn Gottes) wiedergegeben wurde. Das Bekenntnis des Petrus Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes (Mt 16,16) war daher nicht zuletzt auch eine Herausforderung an den römischen Kaiserkult (S. 17, 19). Eine feine Ironie liegt überdies darin, dass der Vater Jesu Christi hier als lebendiger Gott bezeichnet wird, während die Väter der römischen Kaiser erst nach ihrem Tod in den göttlichen Stand erhoben werden konnten (S. 21).
- In Caesarea Philippi gab es ein langgestrecktes, rötliches Felsmassiv mit zahlreichen Grotten und Nischen, das als Heiligtum des Gottes Pan diente. Wenn Jesus im Angesicht dieses Felsens sagte: Auf diesen Felsen werde ich meine Versammlung bauen (Mt 16,18), wollte er damit möglicherweise einen bewussten Kontrast herstellen: Der neue Felsen tritt an die Stelle der alten Religionen, die hier, an diesem Ort, im Pan-Heiligtum symbolisiert sind. Und wenn Jesus hinzufügt, daß die Pforten der Hölle diese Gemeinde nicht überwältigen werden, dann geht der Blick in Caesarea Philippi unwillkürlich zur dunkelsten und tiefsten Höhle des Pan-Tempels (S. 29).
- Pilatus, der Präfekt von Judäa, war dem Legaten der Provinz Syrien unterstellt. Dieser übte sein Amt damals jedoch nicht in Syrien selbst aus, sondern im fernen Rom. Pilatus konnte in Krisenfällen also keine schnelle militärische Hilfe anfordern und musste daher alles tun, um Gefahrenherde sofort in den Griff zu bekommen und selbst kleinste Unruhen sofort im Keim zu ersticken. Zugleich durfte er es in diesen Jahren nicht riskieren, die jüdische Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Beide Aspekte können uns verstehen helfen, warum dieser Präfekt einerseits überhaupt bereit war, den potentiellen Unruhestifter Jesus hinzurichten, obwohl er von seiner Schuld nicht völlig überzeugt war, und warum er andererseits dem Druck der jüdischen Machtelite, Jesus zu kreuzigen, relativ schnell nachgab (S. 85).
- Die Bezeichnung Freund des Kaisers (Joh 19,12) war ein römischer Ehrentitel (Amicus Caesaris). Wenn die Juden Pilatus vorhielten, er sei kein Freund des Kaisers, wenn er Jesus freilasse, warnten sie ihn damit vor einem möglichen Verlust dieses Titels. Wenige Jahre zuvor war einem anderen römischen Präfekten namens Gaius Cornelius Gallus der Titel Freund des Kaisers aberkannt worden; er wurde aus dem beamteten Staatsdienst ausgeschlossen, vom Hof verbannt, aus den kaiserlichen Provinzen exiliert und beging schließlich Selbstmord. Die Juden konnten daher erwarten, dass Pilatus sich durch eine solche Warnung würde einschüchtern lassen (S. 96).
- Der Wortlaut der Beschuldigungsschrift am Kreuz Jesu wird von den Evangelien unterschiedlich wiedergegeben; wenn der hebräische Text lautete Jeschu Hanozri W(u)melech Hajehudium (Jesus der Nazoräer und König der Juden), bildeten die Anfangsbuchstaben der vier Wörter den unaussprechlichen Namen Gottes: JHWH. Dadurch würde der Protest der Hohen Priester (Joh 19,21) eine ganz neue Dimension gewinnen (S. 106f.).
Leider enthält Thiedes Buch bis auf die Stellenangaben der antiken Zitate keine Literaturnachweise, die eine Überprüfung seiner Aussagen oder weitere Forschungen ermöglichen würden. Man muss sich also, was die Fakten betrifft, ganz auf den Autor verlassen. In seinen Schlussfolgerungen und Hypothesen wird man ihm vielleicht nicht immer folgen wollen; dies schmälert den Wert seines Buches jedoch kaum. Eine spannende Lektüre und ein wertvoller Beitrag zum Verständnis der Lebens- und Denkwelt des 1. Jahrhunderts!
- Jesu Wort an Saulus Es ist hart für dich, gegen den Stachel auszuschlagen (Apg 26,14) gehörte zum Zitatenschatz der damaligen Zeit; es kommt in mehreren Theaterstücken vor, so etwa im Prometheus und im Agamemnon des Aischylos oder in den Bakchen des Euripides. Die gebildeten Zuhörer in Apg 26 dürften dieses Zitat sofort wiedererkannt, zugleich aber auch den Unterschied bemerkt haben: Anders als im Prometheus spricht hier nicht ein Gott der griechischen Mythologie zu einem Helden des Mythos; vielmehr löst der Gott, der sich in Jesus historisch offenbart hat, [...] die alte Götterwelt ab. [...] Ein griechisches Theaterzitat steht im Dienst der jüdischen Offenbarung, die zugleich in die ganze Welt hineinwirken soll: in die griechische, die römische und darüber hinaus (S. 131).
Michael Schneider
[zuerst in: Mailingliste APOLLOS, 14. November 2000]